ROM 02|19

Rituale, Entrückungen und Loslassen

Der morgendliche Blick aus dem Fenster (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Als ein gutes Zeichen intentionsloser Entspannung kann gewertet werden, wenn der Körper ohne Wecker einen Zeitpunkt findet, zu welchem er es als dienlich und angemessen erachtet, aus dem Reich der Träume in den Wachzustand hinüberzugleiten.

So geschehen an diesem ersten Adventssonntag. Nicht ausufernd spät – das wäre ein schlagkräftiger Hinweis auf profunde Erschöpfung oder extrem spätes Zubettgehen – und nicht prekär früh – ein möglicher Fingerzeig auf das Verhaftetsein im Korsett des Alltags – schlug ich die Augen auf und vernahm als erstes ein forderndes Blöken von Schafen. Selbige weilen und weiden nämlich direkt auf der parkähnlichen Grünfläche vis-a-vis meines Fensters.

Let’s begin it crunchy

Also hinaus aus dem Bette, in der Küche einen Tee bereitet, ein paar fette biscottate integrale (Roggenschrot-Zwieback) mit Provolone bzw. Kirschmarmelade gespeist, eine Banane hinterdrein und nach dem Anziehen hinaus in die Welt zur ca. 15 Gehminuten entfernten Metrostation. Dort in die Linea A Richtung Battistini bis Haltestelle Ottaviano, um schnurstraks zum Petersplatz zu gelangen. Schließlich steht Seine Heiligkeit Papa Francisco zum Angelusgebet am Fenster.

Ein reichlich voller Dom-Vorplatz mit ausschließlichem Zugang über die östlich zuführende Via della Concilliazione mit vorherigen Taschenkontrollen und schon bin ich Teil eines wöchentlichen Rituals, das stets mit einem herzlichen „Guten Appetit!“ („Buon pranzo!“) endet.

Il papa alla finestra (Bild: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Dann habe ich mich auf die wärmenden Stufen der umgebenden Säulengänge gesetzt und den gestrigen Text für’s Blog umgesetzt. Die meiste Zeit gekostet hat dabei die liebevolle Erstellung des Vogelschwarm-Videos: Die richtige, lizenzfreie Musik finden und zuschneiden. Die Zusammenfügung von Bewegtbild und Klang, Schnitt und Überblendungen ordentlich abstimmen und schließlich das fast 45 Minuten dauernde Rendern der ganzen Geschichte in HD-Qualität. Der Akku ging dabei naturgemäß mächtig in die Knie und betrug nach Abschluss der Tätigkeiten nur noch 32%.

Dann lud ich die Fotos für den Beitrag hoch, formatierte hingebungsvoll die Absätze und verschob das Hochladen des 250 MB großen Videos aus Strom- und Datenmenge-Gründen auf den Abend. Noch schnell alles Überflüssige gelöscht und weiter zu einer ersten Inaugenscheinnahme bekannter Orte.

Schwarze Freitage, Wochenenden und Wochen

Dazu muss man wissen, dass zumindest hier in Rom der sog. ’Black Friday‘ schon vor Jahren zu einem ’Black Weekend‘ ausgedehnt wurde und inzwischen der Adventssonntag nur noch kleiner Teil einer ’Black Week‘ ist.
Also eine gefühlte Million Menschen auf der modernen Version der Treibjagd durch die Straßenschluchten, immer auf der Pirsch nach dem nächsten Schnäppchen, immer auf der Suche nach einem lohnenden Shopping-Act, immer den Blick auf die nächste Konsum-Beute gerichtet, die zu stellen und zu erlegen es sich lohnen könnte.

Archaische Rituale in die Jetztzeit geholt

Ein äußerst lustiges, jährlich sich wiederholendes Ritual, welches sowohl zum unbeteiligten Beobachten, als auch – so das nötige Kleingeld dafür zur Verfügung gestellt ist – zum eintauchenden Mitmachen einlädt.

In der nächsten Version des Erlasses zum Schutze Nationaler Sehenswürdigkeiten muss man bestimmt im Stillgestanden stehen (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Diesmal fühlte ich mich dem Zuschauen näher als der Teilnahme und also flanierte ich locker entlang einschlägiger Einkaufsstraßen zur Piazza del Popolo, an der Spanischen Treppe vorbei (dort darf man ja jetzt tatsächlich nicht mehr sitzen, weshalb der Ort nun ein wenig den Charme eines Steh-Buffets versprüht) zur Piazza Barberini und von dort geradewegs zur Chiesa di Santa Maria della Vittoria, einer von außen eher unscheinbaren Barock-Kirche, die jedoch ein künstlerisches Kleinod in sich birgt.

Chiesa di Santa Maria della Vittoria (Foto: Wikimedia Commons, Architas, CC BY-SA 4.0)

In einer der für die Bauzeit typisch pompös ausgeschmückten Seitennischen steht die von Giovanni Lorenzo Bernini geschaffene Skulptur „Die Verzückung der Heiligen Theresa“. Das 3,50 Meter hohe Objekt aus schneeweißem Carrera-Marmor ist meiner Meinung nach eine der schönsten Figurengruppen aus Stein überhaupt.

Einmal wegen des unglaublich realistischen Detailreichtums, vor allem aber, weil der Künstler eine Szene umgesetzt hat, die an ergreifender Lebendigkeit ihresgleichen sucht. Dem Werk liegt die autobiografische Schilderung eines mystischen Erlebens der frühneuzeitlichen Karmeliternonne Teresa von Ávila (1515–1582) zu Grunde:

„Ich sah einen Engel neben mir, an meiner linken Seite, und zwar in leiblicher Gestalt, was ich sonst kaum einmal sehe.[…] Er war nicht groß, eher klein, sehr schön, mit einem so leuchtenden Antlitz, daß er allem Anschein nach zu den ganz erhabenen Engeln gehörte, die so aussehen, als stünden sie ganz in Flammen.[…] Ich sah in seinen Händen einen langen goldenen Pfeil, und an der Spitze dieses Eisens schien ein wenig Feuer zu züngeln. Mir war, als stieße er es mir einige Male ins Herz, und als würde es mir bis in die Eingeweide vordringen. Als er es herauszog, war mir, als würde er sie mit herausreißen und mich ganz und gar brennend vor starker Gottesliebe zurücklassen. Der Schmerz war so stark, daß er mich[…] Klagen ausstoßen ließ, aber zugleich ist die Zärtlichkeit, die dieser ungemein große Schmerz bei mir auslöst, so überwältigend, daß noch nicht einmal der Wunsch hochkommt, er möge vergehen, noch daß sich die Seele mit weniger als Gott begnügt. Es ist dies kein leiblicher, sondern ein geistiger Schmerz, auch wenn der Leib durchaus Anteil daran hat, und sogar ziemlich viel.“

Teresa von Ávila1

Vielleicht wird den Einen oder die Andere diese Wiedergabe an eine unterstütze Herzöffnungs-Meditation erinnern. Bei mir löste dieser Text eine sehr starke Resonanz aus, weil ich das Gefühl hatte, sie würde über mein solches Erlebnis berichten.

Die eigentlich unbeschreibliche Erfahrung einer alles durchdringenden Kraft, die von unbekannter Hand wie eine weißglühende, daumendicke Eisenstange mitten durch das Herz gestoßen wird, gleichzeitig allumfassenden Schmerz auslöst und grenzenlosen Trost und Zuversicht spendet, weil sie ohne jeden Zweifel einer Quelle weit jenseits eines läppischen Ichs und beengender Kategorien von Gut und Böse entstammt und daher wie selbstverständlich göttliche Liebe genannt werden muss. Zurück blieb ein entrücktes Überwältigsein und eine tiefe Dankbarkeit für die Teilhabe an diesem Ereignis.

Umsetzung ist alles

Also war ich neugierig und wollte eben auch die zugehörige Skulptur sehen. Tja, und was soll ich sagen? Der Künstler hat offenbar auf eine geniale Art und Weise exakt das eingefangen, was die Heilige erfuhr. Dass im Nachgang unzählige „Experten“ versuchten, das Werk zu deuten und zu rezensieren, versteht sich von selber. Dass die meisten von ihnen schlichtweg keinen Schimmer hatten, was die Nonne aus Ávila erlebt und niedergeschrieben hat, bedarf ebenfalls keiner Erwähnung.

Das krieg ooch ich nicht besser fotografiert im Finster’n aus zweieinhalb Metern Entfernung von schräg unten ohne Stativ (Foto: Wikimedia Commons, CC BY-SA)

So bin ich denn beseelt nach Hause gefahren und habe mir zwei Riesenteller Spaghetti mit Tomaten-Thunfisch-Sauce gebastelt und vertilgt.
Nach einer anregenden Unterhaltung mit meiner Wirtin und vor dem Zubettgehen bemerkte ich dann ganz nebenbei, dass ich am Mittag aus Versehen alle Fotos vom Anbeginn der Reise gelöscht hatte. Das war dann auch der Grund, warum der himmlische Vogelschwarm nur eine textliche Beschreibung blieb.

Eine abendliche Übung im Loslassen.

  1. Ávila, Teresa v.; Dobhan, Ulrich [Hrsg.]: Teresa von Ávila, Gesammelte Werke, Bd. 1, Buch meines Lebens, 2. Aufl. Herder, Freiburg im Breisgau, 2002. Kap. 29, Abschn. 13, S. 415–429. ISBN 978-3451052118 (bei Amazon für 19,99 EUR zu haben)