ROM 05|19

Untergründe, Abgründe

Die sprichwörtlichen Scherben, die sich gerne zeigen, wenn man im Untergrund sucht (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Wenn man sich Untergründen, fremden wie auch eigenen, zuwendet, öffnen sich dadurch mitunter in Folge auch Abgründe. Diesbetreffs bedarf es dabei nicht zwingend einer willentlichen Bewusstheit, diese jedoch vorangestellt, erleichtert das Unterfangen ungemein.

Die Kontrolle über Richtung, Tiefe und Geschwindigkeit des Voranschreitens in besagte Anderwelten ist erwünschterweise dem oder der Entdecker(in) vorzubehalten, wenngleich dies durchaus nicht immer gewährleistet werden kann. Ein unwillkürliches Entgleiten der haltenden Zügel ruft regelmäßig Erstaunen, Erschrecken oder sogar Entsetzen hervor.

Diesem ungewollten Verlauf der Ereignisse vorbeugend, treten viele diese waghalsigen Reisen denn auch gar nicht erst an. Die prophylaktische Vermeidung als Strategie zur Sicherstellung des Erhalts der eigenen Komfortzone wird dabei schnell zu einer gefestigten, unhinterfragten und letztlich unhinterfragbaren Strategie, die sich zu einem wesentlichen Systembestandteil auswächst. Die gekonnte Ausweichbewegung als Lifestyle.

Ad catacumbas

Nun war es an diesem Tage mitnichten mein zentrales Ansinnen, in heroischem Tatendrang diesem bekanntermaßen wirksamen Muster entgegenzutreten. Vielmehr bestimmte die unbekümmerte Neugier meine Planung der Erkundungen.
Im näheren Umfeld meiner Wohnstatt befinden sich nämlich drei bekannte von nur sechs für die Öffentlichkeit überhaupt zugänglichen Katakombensystemen der insgesamt 60 im Stadtgebiet Roms existenten. Sie waren, wenig erstaunlich, bisher noch nie Teil meiner Besichtigungstouren: Die Calixtus-, die Sebastian- und die Domitilla-Katakombe.

Der Zugang zur Calixtus-Katakombe von der Via Appia her (Foto: Wikimedia Commons, Mister No, CC BY 3.0)
Der Zugang zur Calixtus-Katakombe von der Via Appia her (Foto: Wikimedia Commons, Mister No, CC BY 3.0)

Die Erste liegt zwischen der Via Appia und der südlicher gelegenen Via Ardeatina. Sie umfasst eine Fläche von ca. 15 ha, reicht in vier unterirdischen Ebenen bis zu 20 Meter in die Tiefe und beherbergt insgesamt 370.000 Gräber in einem Gangsystem von über 20 km Länge. Leider musste ich feststellen, dass genau der Mittwoch ein Schließtag war, also setze ich meinen Spaziergang weiter fort.

Die Zweite liegt weiter süd-östlich ebenfalls direkt an der Via Appia, wurde Ende des ersten Jahrhunderts in einer stillgelegten Puzzolanerde-Grube für Bestattungen in Wandnischengräbern angelegt und gute 200 Jahre später mit einer dreischiffigen Kirche überbaut, der heutigen Basilika San Sebastiano fuori le mura. Der Name der betreffenden Gemarkung, ad catacumbas (lat. Talsenke, Mulde), ist auch der ursprüngliche Grund, warum solcherart Begräbnisstätten bis heute Katakomben heißen. Auch dieser Besichtigungsort war jedoch geschlossen – aus unbekannten Gründen und gleich mal bis nach Weihnachten.

Die wunderschöne Skulptur des um 288 n. Chr. gestorbenen Märtyrers (Foto: Sarah A. Besic, CC BY SA 4.0)

Um nicht ganz umsonst dort gewesen zu sein, stattete ich zumindest der genannten Kirche, ebenfalls eine der sieben Pilgerkirchen, wie in vielen Jahren zuvor auch schon, einen kurzen Besuch ab. Solche Wiederholungsbesuche haben die elegante Eigenheit, dass man mitunter völlig Neues dabei entdeckt, oder Altbekanntes neu zuordnen kann.

Die überlebensgroße Büste des Jesus von Gian Lorenzo Bernini (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

So auch diesmal geschehen: Neben der wirklich wunderschönen Figur des Heiligen Sebastians von Giorgetti und der traumhaften Salvator Mundi (lat. Erlöser der Welt = Jesus) Büste von Gian Lorenzo Bernini1 fand ich heraus, dass die angeblichen Fußabdrücke Jesu in der Quo Vadis Kirche nur eine Kopie sind und das Original sich eben in San Sebastiano befindet. Tja, man lernt eben nie aus!

Bevor jedoch der Besichtigungsversuch bezüglich der dritten Katakombe gestartet wurde, lag auf meinem Weg noch ein anderer Ort, dem ich, auch zum ersten Male, einen Besuch abstatten wollte.

Im Wendekreis des Kreuzes

Die Inspiration zu dieser Sehenswürdigkeit, die schon länger vor dieser Reise ihren Ursprung hatte, resultierte aus dem Anschauen eines britisch-US-amerikanischer Spielfilms aus dem Jahre 1983, „Im Wendekreis des Kreuzes“ (engl. Original: „The Scarlet and the Black“) mit Gregory Peck und Christopher Plummer in den Hauptrollen.

Der Trailer des Filmes „Im Wendekreis des Kreuzes“ von 1983

Die gebotene Handlung bezieht sich auf eine wahre Begebenheiten während des Zweiten Weltkrieges: Die italienische Hauptstadt ist von der Wehrmacht besetzt und wird mit harter Hand unter möglichst vollständiger Kontrolle gehalten. Wie anderswo auch verfolgen die Gestapo und die SS vor allem Juden und Widerstandskämpfer, aber auch versprengte, alliierte Soldaten stehen im Fokus der Deutschen.

Aus dem Vatikan heraus organisiert ein aus Irland stammender Priester, Hugh O’Flaherty (G. Peck) zusammen mit dem britischen Diplomaten Sir D’Arcy Osborne (Peter Burton) die Unterbringung und Verpflegung Verfolger und Gefährdeter, wie entflohenen Kriegsgefangenen und abgeschossenen Piloten. Obersturmbannführer Herbert Kappler (C. Plummer), Leiter der Gestapo in Rom, kommt dem Treiben auf die Spur, es gelingt ihm jedoch nicht, die Widerständler, die sich immer geschicktere Tarnungen einfallen lassen, zu schnappen. Über weite Strecken bestimmt das nervenaufreibende Katz- und Maus-Spiel zwischen dem Geheimdienst- und dem Kirchenmann den gut inszenierten Spannungsbogen. Dennoch gibt sich der Film, gemessen am brisanten Thema, eher seicht und weicht insgesamt einer deutlichen Stellungnahme aus.

Das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen

Der Anschlagsort in der Via Rasella. In den Gebäudefassaden sieht man bis heute die Einschusslöcher (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Ebenso wird ein in diese Zeit fallendes Ereignis nur am Rande angeschnitten, obwohl dessen Tragweite bis heute dunkle Schatten wirft. Die Rede ist vom sog. ’Massaker in den Ardeatinischen Höhlen‘. Voraus ging ein Bombenattentat des italienischen Widerstandes gegen die Besatzer. Am Nachmittag des 24. März 1944 explodierte in der Via Rasella in der Nähe der Piazza Barberini eine präparierte Mörsergranate und tötete neben zwei römischen Zivilisten vor allem 33 Angehörige eines südtiroler SS-Polizeiregimentes.

Als Vergeltung dagegen befahlen die drei verantwortlichen Generale in Rom, Feldmarschall Albert Kesselring (Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Italien), Generaloberst Eberhard von Mackensen (Befehlshaber der 14. Armee) und Generalleutnant Kurt Mälzer (Stadtkommandant von Rom), für jeden umgekommenen SS-Mann zehn Italiener zu erschießen. Sie übertrugen diese Aufgabe dem bereits genannten Gestapo-Führer Kappler, der wahllos Gefängnisinsassen dafür auswählte und als diese Quelle vollständig ausgeschöpft war, die fehlende Anzahl mit zur Deportation bestimmten Juden auffüllte. Gemäß der Anweisung von Generaloberst Alfred Jodl (Chef des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht) war die Exekution bis spätestens zum nächsten Abend durchzuführen.

Die Herren Kesselring, von Mackensen, Mälzer und Jodl (Fotos: Wikimedia Commons, Bundesarchiv, Bilder 183-R93434, 101I-311-0926-08/Fraß, 146-1971-033-01, CC-BY-SA 3.0 sowie fair-use/v. Mackensen)

Kappler wählte als geeigneten Ort des Vorhabens die Fosse Ardeatine aus und ließ die Todgeweihten in Lastwagen dorthin transportieren. Dort wurden sie jeweils in Fünfergruppen mit auf dem Rücken gefesselten Händen in die Höhle geführt und mittels Genickschuss getötet. Die ersten Gruppen mussten dabei noch niederknien, als später die Anzahl herumliegender Leichen überhand nahm, wurde ihnen befohlen, sich zur bevorstehenden Exekution auf den bestehenden Leichenberg zu legen. Nach Abschluss der Strafmaßnahme wurde die Höhle schließlich gesprengt.

Die Lage der Ardeatinischen Höhlen

In Luftlinie ca. 400 Meter von den Sebastian-Katakomben, befindet sich dieser Ort des Schreckens. Ich begab mich also über eine kleine, kurvige Nebenstraße hinüber zur etwas tiefer gelegenen Via Ardeatina. An einer Y-Kreuzung erhaschte ich einen ersten Blick auf das gegenüber liegende, mit einer hohen Massivstein-Mauer umgebene Gelände. Nur wenige Schritte südlich wird die mächtige Umfriedung von einem aus Bronze gefertigten Tor des expressionistischen Künstlers Mirko Basaldella unterbrochen. Wenn auch die eckigen, ineinandergreifenden Formen abstrakter Natur sind, so bedarf es doch keiner größeren Vorstellungskraft, um in dem Werk sich schmerzvoll umeinanderwindende Körper zu erkennen.

Das Eingangsportal von Innen gesehen (Foto: Sarah A: Besic, CC BY-SA 4.0)

Der zentrale Innenhof wird an der gegenüberliegenden Seite halbkreisartig von hoch aufragenden Felsen begrenzt, die trotz der auf Anhieb sichtbaren Höhlenzugänge der ganzen Szenerie einen äußerst bedrückenden Charakter verleihen. Kleine Rasenflächen und buschige Bepflanzungen lockern dies kaum auf. Die auf den Felsen hoch aufragenden Pinien, mahnend über den Abgrund sich beugend, verstärkten eher noch das Gefühl der Enge.

Der Innenhof vor den Höhlen, links der Eingang (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

So lief ich einige, wenige Schritte bis zur Mitte dieses Platzes und… – erstarrte. Es war weder ein Entsetzen, oder Erschrecken, gar ein Erstauntsein, welches mich festhielt. Viel mehr wich mit einem Male jedes Leben aus meinem Gliedern. Irgendeine unbekannte Kraft hatte meine Füße gleichsam auf den Boden zementiert. Schlagartig schlossen sich meine Augen und die folgende Schwärze löste einen leichten Schwindel aus, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte. Das Orientierungs-Element ’Zeit‘ spielte ebenfalls mit einem Mal keine Rolle mehr und eine ausweglose Ohnmacht überkam mich. Ich fühlte weder mich selbst noch nahm ich meine Umgebung wahr.

Stillstand

Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort so stand. Erst eine männliche Stimme hinter mir riss mich aus dieser erzwungenen Apathie. Der freundliche Herr wollte mir wohl ein paar Hinweise zur Orientierung auf dem Gelände geben. Ich schaute mich jedoch nicht einmal um, nickte nur und er entfernte sich wieder. Meine derweil geöffneten Augen erlaubten mir den Blick auf den Höhlenzugang direkt vor mir.

Ein unterschwelliger Schauer kroch wie ein böses Tier durch meinen Körper. Zu schwach, um Angst zu machen, aber dennoch stark genug, um eine unlösbare Spannung zu erzeugen. Der Verstand suchte einen rettenden Fixpunkt, an dem er sich festklammern konnte, scheiterte jedoch fortwährend in diesem Unterfangen, was nach einer Weile zu einer inneren Lethargie führte. Ohnmächtig stand ich am diesem Ort, durchdrungen von einer Gefühls-Melange aus gleichzeitiger Bedeutungs- und Ausweglosigkeit. Alle Fäden fanden hier zueinander, verspannen sich zu einem großen Ganzen, das sich jedoch umgehend in sinnfreies Nichts auflöste.

Die Gedenkwand am Ende des Ganges (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Irgendwann fing ich mich wieder und schritt bedächtig auf den vor mir liegenden Felsen zu. Der rechteckige Gang war ausreichend ausgeleuchtet und wies einen ebenen Boden auf. Geradewegs zu endete der Weg nach ca. 50 Metern an einer Gedenkwand.

Der zweite Teil dieser Erinnerungsstätte, das Mausoleum, lag am Ende der U-förmigen Fortsetzung des unterirdischen Wegesystems wieder im Freien. Es besteht aus zwei Ebenen: Auf einer Fläche von 50 Metern Tiefe und 25 Metern Breite stehen in parallelen Doppelreihen die Sarkophage aller 335 nach dem Krieg geborgenen Opfer. Bis auf 12 Personen wurden sie alle identifiziert und ihre Namen finden sich jeweils an der Oberkante der Stirnseite. Auf sechs schlanken Konsolen ruht über dieser trogartigen Fläche eine 3,5 Meter hohe, ca. 11.000 Tonnen schwere Betonplatte. Der Abstand zwischen Trog und Platte erzeugt rundum einen schmalen Streifen, durch den von außen Tageslicht auf Begräbnisstätte fällt.

Das Mausoleum: Die Sakrophage unter der mächtigen Betonplatte (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Ich lief mit einer geradezu gespenstischen Stille in meinem Kopf sämtliche Reihen ab, immer noch auf der Suche nach einem inneren Halt, und verlor den selbigen äußeren unvermittelt und heftig vor einem Sarkophag, der dem Namen ’Angelo Focchetti‘ trug. Danach verließ ich auch dieses Areal und stieg eine langgezogene Treppe hinauf, die auf einen seitlich liegenden Hügel führte, auf dessen Kuppe sich ein kleineres Museum befand. Zahlreiche Ausstellungsstücke in dem einzelnen, runden Raum widmeten sich verschiedenen Themen rund um die Bluttat, waren aber leider ausschließlich in Italienisch verfasst, so dass ich den Bereich schnell wieder verließ.

Ab in den nächsten Untergrund

Inzwischen ging nämlich, der vorgerückten Stunde geschuldet, das Personal herum und bereitete den Ort zur Schließung vor. Auch ich entfernte mich, noch einmal einen Blick zurück auf die Höhle werfend und ließ diese Gedenkstätte hinter mir. Dabei tat es nach all der vorhergehenden Schwere und Rätselhaftigkeit richtig gut, entlang der sehr belebten Straße deutlich anderen Eindrücken unterworfen zu sein, die vor allem von lebendiger Geschäftigkeit zeugten.

Beispiel einer der wenigen exzellent erhaltenen Grabplatten mit Beschriftung (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Wiederum nur wenige hundert Meter weiter befindet sich das Gelände der Domitilla-Katakomben. In einem Geflecht aus 17 km Gängen in fünf Etagen befanden sich dort einstmals 150.000 Grablegen. Unerwarteterweise hatte diese Sehenswürdigkeit noch ca. anderthalb Stunden geöffnet. Ich erwarb also ein Eintrittsticket und schon Minuten später stand ich mit einer kleinen Gruppe Deutsch Sprechender in der zum größten Teil unterirdisch liegenden Katakombenbasilika.

Fotografieren verboten: Die unterirdische Basilika (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Ein netter, älterer Herr, seinem Bekunden nach seit dreißig Jahren in der italienischen Hauptstadt ansässig, leitete dem Rundgang und erläuterte detailliert die Umstände der Entstehung und Nutzung der Räumlichkeiten. Ein wenig Muffensausen hatte ich zunächst, als wir das enge, recht dunkle und demsige Gangsystem betraten. Kaum mannshoch, zog sich ein unüberschaubares Netzwerk aus Gängen in eine unabsehbare Ferne, die zwangläufig stockfinster war. Hier und da taten sich kleine Kammern auf, die eine Unzahl an inzwischen geöffneten Nischen zur Beisetzung je einer Person beherbergten und über- und hintereinander angeordnet waren. Kleinere Aushöhlungen deuteten dabei auf Kindergräber hin, hintereinander in den Fels getriebene auf Ehepartner-Gruften. Nur ein einziges Grab war durch Bemalung ausgeschmückt.

Die wirklich hoch und breit aber heutzutage wenigsten erleuchtet. Man stelle sich die Anlage dunkel vor, man selber nur mit einer flackernden Öllampe bewaffnet und dann ungefiltert dem Geruch tausender, verwesender Leichen ausgesetzt (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
Ein reich bemaltes Grab, frontal links und rechts Petrus und Paulus, in der oberen Wölbung Jesus mit seinen Jüngern (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Erstaunlicherweise berührte mich diese Gräber-Ansammlung nicht so sehr und ich war sehr dankbar darüber, dass ein vermutetes Unwohlsein bezüglich der Enge und labyrinth-artigen Struktur der Anlage sich bis auf ein kurzes Aufblitzen in den letzten Minuten angenehm in Grenzen hielt.

Zurück zur Erdoberfläche

Die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont und auch wenn die natürliche Beleuchtung anderes nahelegte, war der Abend noch nicht einmal angebrochen. Es zog mich weiter.
Im Angebot stand noch eine Heilige Treppe, sowie zwei unheilige Orte im Zusammenhang mit vorher erwähnten Massaker. Vorbei an der Quo-Vadis-Kirche, während dieses Rom-Besuches eine stete Begleiterin, ein Stückchen an der Aurelianischen Mauer entlang und dann straight in Richtung Lateran. Diesmal aber nicht zu San Giovanni, sondern gegenüber in die durch ein riesiges Werbeplakat des Italienischen Bahnunternehmens Trenitalia vollverschleierte Scala Santa.

Da unten geht’s los. Das Erklettern der Heiligen Stiege ist nur auf Knien erlaubt. (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Die schon erwähnte Kaiserin Helena, Mama von Konstantin, brachte von ihrer Reise aus dem Heiligen Land nämlich nicht nur die all die fantastischen Reliquien mit, die heute in der Basilika Santa Croce in Gerusalemme aufbewahrt werden (s. Schilderung vom Vortag), sondern zudem noch die gesamte Treppe vom Palast des Pontius Pilatus in Jerusalem, die Jesus vor seiner Verurteilung durch den römischen Statthalter hinaufgestiegen sein soll. Das Bauwerksteil wurde zunächst freistehend wiederaufgestellt, Ende des 16. Jahrhunderts durch ein schützendes Gebäude überbaut und 1723 schließlich mit Nussbaumholz verkleidet.

Von oben sieht das dann so aus (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Jeden, der sich darauf einläßt, erwarten 28. Stufen, die auf den Knien kriechend zu überwinden sind. Ich wollte an diesem Brauch auch teilhaben und löste den moderaten Eintrittpreis von 3,– EUR. Dafür erhält man zusätzlich noch ein kleines, gedrucktes Heft, dass ein wenig – aber mir deutlich zu sparsam – zu den Hintergründen dieses Bauwerkes Auskunft gibt. Auch wird ein Vorschlag gemacht, welche Bibelstellen auf welcher Stufe zu rezitieren sind. Kurz musste ich stocken, weil mir das nicht bewusst war, und ich überlegte, mit welchem Text ich mich nach oben schleppen wollte. Wer mich kennt, weiß, dass ich solche Entscheidungen nach persönlicher, situativer Angemessenheit und umfeldbezogener Beurteilung zu fällen pflege. Im Endausscheid meiner blitzschnellen Überlegungen kristallisierten sich das Vaterunser und das 100-Silben-Mantra von Vajrasattva heraus. Die inhaltliche Frische des Letzteren zusammen mit den Erinnerungen an meine Ngöndro-Praxis waren die maßgeblichen Gründe für Letzteres.

100-Silben-Vajrasattva-Mantra

OṂ
VAJRASATTVA SAMAYAM ANUPĀLAYA
VAJRASATTVA TVENOPATIṢṬHA
DṚḌHO ME BHAVA
SUTOṢYO ME BHAVA
SUPOṢYO ME BHAVA
ANURAKTO ME BHAVA
SARVASIDDHIṂ ME PRAYACCHA
SARVAKARMASU CA ME
CITTAṂ ŚREYAḤ KURU HŪṂ
HA HA HA HA HOḤ
BHAGAVAN SARVA
TATHĀGATAVAJRA MĀ ME MUÑCA
VAJRĪ BHAVA MAHĀSAMAYASATTVA
ĀḤ HŪṂ PHAT

Und damit ist’s schon mit der Frische vorbei! Klingt nach gar nichts, aber 28 Stufen auf den Knien ist nicht ohne. Die erste Hälfte gestaltet sich das noch cremig und locker, aber ab Nummer 15 ereilte auch mich dann erst ein seichter, ab der 20. Stufe ein zunhemend penetranter und drei vor Schluss dann ein wirklich eindrucksvoller Schmerz. Diese kraftvolle Auseinandersetzung mit sich selber, wenn sie doch alles in allem kaum mehr als 15–20 Minuten dauert, hat es im Detail in sich und zeigt wieder einmal sehr eindrucksvoll, wie stark die Verflechtung in den manifesten Wohlfühlraum ausgestaltet ist. Allein die naheliegende Fragen, „Was mache ich hier eigentlich gerade? Und warum“, können Ausgangspunkt für wunderbare Reflektionen sein. Da hilft auch die Ablenkung durch die grandiosen Deckenmalereien nicht.

Die Deckenmalereien der drei nebeneinander verlaufenden Treppenhäuser. Die mittlere ist die über der Skala Santa (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Ausklang

Nach dieser völlig entgegengesetzen Bewegung zur ersten Tageshälfte habe ich mir noch den Anschlagsort des Widerstandes in der Via Rasella und das ehmalige Hauptquartier der SS in der Via Tasso angeschaut und bin dann ganz entspannt – allerdings bis Oberkante Unterlippe angefüllt mit den vielfältigen Eindrücken des Tages – über die Via del Corso zur Piazza del Popolo, habe mich dort noch an einem Super-Lecker-Eis ergötzt und bin mit der Metro A bis Haltestelle Ponte Lungo, um schwer erschöpft mein wunderbares, vorübergehendes Zuhause zu erreichen.

  1. Wir erinnern uns, dieses begnadete Genie hat während der Zeit des Barock halb Rom – und alle möglichen europäischen Großstädte darüberhinaus – mit Skulpturen und Architektur ausgestattet: U. a. die schon bekannte Verzückung der Heiligen Theresa von Ávila, Apollo und Daphne in der Villa Borghese, die Medusa in den Kapitolinischen Museen, das Hochaltar-Dach im Petersdom, den gesamten Petersplatz davor, den Tritonenbrunnen und den Bienen-Brunnen auf der Piazza Barberini, den Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona usw. usf.