Zwischen Warten und Verweilen
Wenn einer eine Reise tut, dann… – ja, was eigentlich dann?
Dann passieren vor allem erstmal viele Dinge. Begebenheiten ereignen sich, Begegnungen finden statt, Wahrnehmungen finden Raum, Assoziationen werden vorgenommem und Einstellungen werden hinterfragt und erfahren Änderungen und Verhaltensweisen werden angepasst.
All dies geschieht bisweilen ohne eigenes Zutun, oder, je nach Grad der Bewusstheit, in der gesamten Spannweite von misstrauisch widerständig über forschend zulassend bis hin zu absichtlich hingebungsvoll.
Das besondere am Reisen ist dabei der veränderte Rahmen dieses Seins und Wirkens. Klar, man könnte eigentlich auch zuhause bleiben. Gerne taucht nämlich an dieser Stelle mit einem seicht herablassenden Ton (vermeintlicher) spiritueller Fortgeschrittenheit die Frage auf „Was suchst Du denn eigentlich?“.
Blöder Einwurf!
Ja, was suche ich eigentlich? Entspannung? Tapetenwechsel? Oder, um in der gleichen Resonanz des obigen Fragestellers zu antworten: Eine andere Perspektive auf das Feld, in dem der illusionäre und doch so glaubwürdige Prozess namens ’Ego‘ stattfindet.
Selbstverständlich kann ich all die vorgenannten Aspekte einer Reise auch in heimischen Gefilden, still vor einer Kerze und einem Räucherstäbchen sitzend und kraftvolle Mantren murmelnd, haben. Während aber selbiges Tun in einer alltäglichen Wirklichkeit eingebettet ist, die mir geläufig, vielleicht genehm, auf jeden Fall aber gewohnt daherkommt, reißt eine Reise mit all dem Neuen und Unerwarteten mir – Gott sei’s getrommelt und gepfiffen ! – eben auch diese Ebene der Komfortzone auf eine liebenswert und heilsame Weise unter den Füßen weg.
Und genau dies ist es, was das Reisen, den räumlich-manifesten Ortswechsel, so attraktiv macht: Die Neu-Verschwerpunktung von den Inhalten weg zum Modus des Gewahrseins. Letzteres, als Wächter der Achtsamkeit, erfährt ein erfrischendes Update, wenn es nicht ständig mit den gleichen Beobachtungsgegenständen befasst ist, sondern zu einem belebenden Blickwechsel gezwungen wird, also wiederum eine Draufsicht auf das eigene Tun einnimmt. Auch das Gewahrsein kann nämlich in seinem wiederholend-ermüdenden Bewerten der Inhalte, die von der Achtsamkeit in steter Präsenz und Wachheit ausdrücklich gemacht werden, den Blick auf sein eigenes Tun verlieren. Das ist dann wie ein totes Pferd zu reiten. Es sitzt sich noch bequem im Sattel, die Umgebung behält ihre Vitalität und Bewegtheit, aber die eigene Position erstarrt.
Die liebevolle, herausfordernde oder aber auch gänzlich brachiale Auseinandersetzung mit nicht nur der Veränderung alles Anderem um einen herum, sondern der ureigensten Veränderbarkeit und Unabsehbarkeit stellt in Frage und verortet auch innerlich neu. Und zaubert ein Lächeln auf die Lippen. Oder löst ein befreiendes Durchatmen aus. Oder drängt zum Loslassen.
Das geplante Programm
So geschah es auch an diesem Tag. Ich wollte eigentlich drei Kirchen, zwei absichtlich, eine quasi im Vorbeigehen, besuchen. Urspünglich erstens die Basilika Santa Croce in Gerusalemme, und zweitens die Basilika San Clemente al Laterano. Und weil sie auf dem Weg zwischen beiden liegt, gleich noch und wahrlich nicht zum ersten Mal San Giovanni in Laterano.
Die Tatsache, dass ich relativ spät erst den Weg aus den Federn fand, führte mich auf meiner Besichtigungspilgerschaft zeitlich ungünstig an den Startort meiner Tour. Die von 12:45–15.30 Uhr dauernde Mittagspause verhinderte einen sofortigen Besuch. Ein Übergehen und Weiterziehen kam für mich dennoch nicht Frage.
Ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor bestimmte nämlich meine Entscheidung, zu Bleiben und das Vergehen der Zeit bis zur nachmittäglichen Öffnung abzuwarten.
Plötzlich aufkommender Schmerz
Am Tag zuvor, beim Besuch der Beton-Stahl-Glas-Wüstenei E.U.R. verzehrte ich während einer späten und recht langen Mittagspause an dem künstlich angelegten See eine dreiviertel Packung leckerer Schoko-Vollkorn-Hafer-Kekse. Und während sich unmittelbar vor mir das heitere Treiben der bunten Schar von Stockenten, Schwänen und Lach- und See-Möven abspielte, bemerkte ich im Sitzen zunehmende Beschwerden in der rechten Hüfte und dem darunter befindlichen Knie. Eine unsägliche und nicht präzise zuzuordnende Allianz aus Muskelkater, Sehnenermüdung und starkem Gelenkschmerz machte das Aufstehen und Weitergehen zur einer Tortur sondersgleichen.
Jeder Schritt wurde zur Last und Herausforderung, die zu überwinden Kraft und Konzentration kostete. „Aha“, sprach ich gegenüber dem Universum still zu mir, „ein netter Einfall von Euch da oben…! Langersehnte Muße und dann ein plötzliches Gebrechen.“ Hinzu kam im Laufe des Abends noch ein zunehmend ungesund klingendes, Kratzgeräusch/-gefühl im Knie. Lediglich ein sehr (!) bewusstes, langsames aber unterbrechungsloses Gehen mit achtsam ausgeführtem Bewegungsablauf linderte den Schmerz auf ein nicht wirklich erträgliches, aber wenigstens praktikables Maß.
Weil diese Symptome zeitlich so nah zu dem Süßgebäckverzehr auftraten, ordnete ich diese demselben zu – ich kenne soetwas zu bestimmten Zeiten bzgl. bestimmter Nusssorten – und fortan trank ich eine Unmenge Wasser. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen kann ich, in schā‘ Allāh (hier das üblich genutzte „Gott sei Dank“ in ausgleichender Variante), die erhebliche Besserung des Leidens bescheinigen – es waren also die Kekse!
Warten, warten, warten…
Die soeben geschilderte Symptomatik verleidete mir also ein Weitergehen, was das Verweilen bis zu Kirchenöffnung zu einem Warten machte. Eine Gruppe asiatisch aussehender (Achtung: Ethnizitismus-Alarm!) Tourierender (dies ist das Verbalsubstantiv des bisher nicht existierenden Tätigkeitswortes ‚tourieren‘ zum Zwecke der genderbezogen wohlwollenden und wertschätzenden Neutralität, welche durch die Nomen ’Tourist‘ bzw. ’Touristin‘ als in nicht ausreichendem Maße abgebildet bewertet wird) gesellte sich nach einer Weile dazu und ich hatte die Gelegenheit, die zur Verfügung stehende Zeit mit dem Lesen meines ein wenig trocken geschriebenen, aber detailreich recherchierten Reise-Buches „Karl der Große“1 sowie dem Schreiben des Reiseberichtes vom Vortag zu verbringen. Genaugenommen wartete ich also nicht, sondern wich dem durch Tun aus.
Irgendwann öffneten sich die Pforten dieser einen der insgesamt sieben Pilgerkirchen der Heiligen Stadt, die direkt an der Aurelianischen Mauer angelehnt steht. Grund des Besuches dieses Gotteshause war zum Einen die Tatsache, dass ich sie noch nie besucht hatte – obwohl ich mich der Zunft der Pilger durchaus zurechnen würde. Zum Anderen beherbergt das Gebäude eine nicht unbeträchtliche Anzahl von legendären Objekten rund um die Kreuzigung Jesu, u. a. Stücke des Kreuzes, Dornen der Krone und eines Nagels. Kaiserin Helena höchstselbst, Mutter des berühmten Herrschers Konstantin, brachte diese Reliquien gemäß der Berichte ihrer Zeitgenossen Ambrosius von Mailand und Eusebius von Caesarea von ihrer für ihr hohes Alter von 76 Jahren mühseligen Reise nach Palästina im Jahre 326 n. Chr. zurück.
Die Kammer mit all dem als heilig titulierten Plünn selber, wie auch die in reich verzierte, goldene Gefäße gefassten Objekte lösten in mir jedoch keine nennenswerte Resonanz aus, anders als die beeindrucken gestaltete Altar-Apsis, so dass ich mich zügig der weiteren, geplanten Tour zuwandte.
In der Kathedrale des römischen Bischofssitzes, San Giovanni, wurden irgendwelche Vorbereitungen einer bevorstehenden Großveranstaltung getroffen, weshalb ich nach einem kurzen Streifzug durch die Seitenschiffe auch diesen Ort hinter mir ließ, um zur dritten Kirche zu gelangen.
San Clemente
Die Sonne war mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden und die Uhr zeigte viertel vor Sechs, als ich in der östlich des Kolosseums gelegenen Basilika ankam. Der vielfältig gestaltete Gebäudekomplex mit ältesten Gebäudeteilen aus dem ersten Jahrhundert beeindruckte mich vor allem durch sein malerisches Atrium aus dem 12. Jahrhundert mit einem mittigen Marmorbrunnen, dem durch Säulen abgetrennten Kreuzgang und das altertümliche Naturstein-Pflaster.
Für die Besichtigung der eigentlichen Attraktion, das Grab des Heiligen Kyrill, eines der zwei bedeutendsten christlichen Missionare des slawischen Raumes und Schöpfer der altkirchenslawischen Sprache und der Glagolitischen Schrift, die später weiterentwickelt wurde zum bis heute geläufigen, kyrillischen Alphabet, war jedoch die Zeit zu knapp geworden. Zehn Euro Eintritt zur Krypta für verbliebene sieben Minuten Öffnungszeit standen für mich in keinem Verhältnis, also verließ ich diesen Gedenkort weitestgehend unverrichteter Dinge.
Die sonderbare Baustelle
Die nächste, ungeplante Station wurde dann mehr oder weniger zwangsläufig das ebenfalls schon geschlossene Kolosseum. Das Areal rund um den altertümlichen Vergnügungsbau hat dabei in den vergangenen Jahren sein Gesicht drastisch verändert. Und jetzt wird’s verschwörungstheoretisch: Angeblich wird im Umfeld u. a. des Kolosseums seit Jahren – Erinnerungen an den Berliner Flughafen (Gibt’s den überhaupt wirklich? Hat den schon mal jemand tatsächlich in live gesehen, oder ist das alles nur gerenderte, virtuelle Fake-Realität?) kommen auf – eine dritte U-Bahn-Verbindung, die sog. Linea C, gebaut.
Was dabei wirklich passiert, ist, dass eine ehemals recht übersichtliche Baustelle über die Jahre wie ein Geschwür Ausmaße angenommen hat, die nunmehr nur noch als lachhaft bezeichnet werden können. Ganze Stadtteile sind mittlerweile komplett voneinander getrennt, endlose Wände versperren die Sicht auf das sich dahinter Zutragende, beeindruckende Stahlportalkräne erheben sich bedrohlich über der Szenerie und Schlangen von sich hintereinander aufreihenden Frischbeton-Transportlastkraftwagen versperren ganze Straßenzüge.
Vor dem Kolosseum nun zeitigt diese Baustelle Folgen, die auch Besuchern der Ewigen Stadt keinesfalls verborgen bleiben. Das sich nebenan erhebende Forum Romanum, teils höher, teils niedriger gelegen als das umgebende Straßenniveau, wird an seinen äußeren Grenzen von weithin sichtbaren Stahlträger-Konstruktionen, stützenden Pfeilern und festigenden Verstrebungen wie in einem Korsett zusammenghalten.
Meine Vermutung dazu, dem wohlgesonnenen und kritischen Leser selbstverständlich nur unter dem Mantel der verschwiegenen Diskretion geäußert: Der italienische Zweig der Illuminaten läßt heimlich und von den diskordianischen Anarchisten unbemerkt die Heilige Stadt großflächig neun Stockwerke tief unterkellern, um dort das Rechenzentrum der zweiten Version des „First Universal Cybernetic-Kinetic Ultra-Micro Programmer (FUCKUP)“, eines AI-gestützten Riesencomputers zur Immanentisierung des Eschatons, einzurichten.2 Aber das bleibt bitte erst einmal, bis zur Auffindung weiterer Belege, unter uns!
Verweilen und Öffnen
Alle Vorhaben des Tages waren somit ad acta gelegt und ich ließ mich absichtslos auf einer Steineingrenzung neben dem Trajansforum vis-a-vis des Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II (auch liebevoll „die Schreibmaschine“ genannt) nieder.
Eine Gitarren-Kombo spielte auf und verhieß südländisches Urlaubsflair. Es war mittlerweile viel zu dunkel, um in meinem Schmöker zu lesen, auch ließ ich die Pfoten mal von der Taschen-EDV. Ich schaute versonnen dem nicht abreißenden Strom von Touristen nach, ließ meinen Geist durch Zeiten und Räume gleiten und noch während ich darüber nachdachte, auf was ich hier eigentlich wartete, wurde mir mit einem Male bewusst, dass ich eben genau an diesem Ort nichts mehr erwartete und aus meinem richtungslosen Hiersein ein pures Verweilen geworden war.
Sogleich stellte sich das tiefe Gefühl von Freiheit ein, die süßen Klänge der unweit erklingenden Saiteninstrumente drangen weniger als Musik in meine Ohren, sondern durchströmten mich als Zeichen einer umfassenderen Form der Existenz. Ankommen. Huh!
Dort hielt es mich dann in diesem Zustand gute anderthalb Stunden, bis die von unten durch den Hosenboden hineinkriechende Kälte ein weiteres Bleiben verleidete.
Mit einem großen Umweg, schon, um wieder warm zu werden, spazierte ich, immer noch schmerzgeplagt durch die Via del Corso, eine zentrale Einkaufsstraße, über die Piazza del Popolo und hälftig zurück zur Spanischen Treppe
Und nochmal: Was ist eigentlich die Sehenswürdigkeit der Spanischen Treppe, wenn man nicht mehr darauf sitzen darf? Richtig: Eine Treppe. Nicht mehr und nicht weniger! Unterwegs (wieder-)bewaffnet mit einem unsäglich leckeren Eis, stieg ich schließlich in eine späte Linea A Richtung Anagnina und beschloss den Tag in meiner wunderbaren Unterkunft.
- Mielke, Thomas, R. P.: Karl der Große. Der Roman seines Lebens. Emons, Köln, 2016. ISBN 978-3954511709. (bei Amazon als Taschenbuch für 12,90 EUR erhältlich)
- Shea, Robert; Wilson, Robert Anton; Breger, Udo (Übers.): Illuminatus! Die Trilogie: Das Auge in der Pyramide / Der goldene Apfel / Leviathan. 3. Aufl., Sonderausgabe. Rowohlt, Hamburg, 2011. ISBN 978-3499256547 (bei Amazon als dreibändige Taschenbuchausgabe für 18,00 EUR erhältlich)