Gedanken zu einem Sneak-Preview-Film
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Es gibt Filme, die erzählen Geschichten, und es gibt Filme, die sezierend in die Seele ihrer Zeit greifen – Eddington gehört unmissverständlich zur zweiten Kategorie. Was der US-amerikanische Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent Ari Aster („Hereditary“, „Midsommar“, „Bones“) hier mit messerscharfer Präzision entfesselt, gleicht einem fiebrigen Traum inmitten des Realen: einer schmerzhaft klaren Vision einer Welt, die den Bezug zu sich selbst verloren hat. Schon nach wenigen Minuten begreift man, dass es nicht um die lineare Erzählung von Schicksalen geht, sondern um den psychosozialen Befund einer Zivilisation, die sich in ihrer eigenen Vieldeutigkeit verirrt hat. Eddington ist keine Diagnose, sondern eine Obduktion im hellen Tageslicht – unerbittlich, und dabei von einer verstörenden Schönheit.
Die Leere als Spiegel: Ein Ort ohne Ort
Die Handlung spielt in einem kargen, sonnenverbrannten Niemandsland, irgendwo zwischen Zivilisationsrand und apokalyptischem Symbolraum. Es beginnt wie ein Rätsel, das sich gar nicht lösen lassen will, sondern nur deutlicher brennt, je länger man hinschaut: Ari Asters selbst geschriebene Western-Noir-Komödie „Eddington“ stellt eine Kleinstadt in New Mexico in das gleißende Licht eines pandemischen Sommers und lässt zwei Männer – einen erschöpften Sheriff und einen nervös vergnügt grinsenden Bürgermeister – aneinandergeraten wie zwei Thesen in einem schlecht belüfteten Seminarraum. Aus dieser Konstellation, die zunächst wie eine lokale Groteske klingt, wächst ein entblößender Fiebertraum, der entlang der aktuellen gesellschaftlichen Kampflinien verläuft, sie überzeichnet, verschiebt, verdichtet – und immer wieder neu zerreißt. Joaquin Phoenix (als Sheriff Joe Cross) und Pedro Pascal (als Bürgermeister Ted Garcia) führen durch dieses Labyrinth. Emma Stone oszilliert als Louise Cross, die Ehefrau des Sheriffs, zwischen neurotischem Weltschmerz und überdrehter Selbervergewisserung im Fahrwasser des zweifelhaften Heils-Propheten Vernon Jefferson Peak (Austin Butler), während ihre Mutter Dawn Bodkin (Deirdre O’Connell) wie eine moralische Restwärme vergeblich durchs Bild flackert.
Zivilisatorischer Stauraum

Es ist ein Film, der den Atem anhält – und in den falschen Momenten wieder freigibt. Der Ort: Ein Irgendwo im wüstenhaften Südwesten der Vereinigten Staten, wo die Vorstellung eines naturnahen, dörflichen Safe-Spaces kollabiert wie ein Zelt im Staubsturm. Die Menschen: Aufgerieben zwischen Hygienevorschrift und Freiheitsversprechen, zwischen Gemeinsinnsappell und Verschwörungsmythos, zwischen der Sehnsucht nach Ordnung und dem süßen Gift der Selbstermächtigung. Aster lässt vermeintliche Gewissheiten erhaben aufsteigen wie bunt bemalte Luftballons, um sie dann wahlweise wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen – die wohlwollende Variante – oder wie lästige Insekten zu erschlagen – die erbarmungslose Variante. Die Kamera, realisiert vom kongenialen Darius Khondji (u. a. „Delicatessen“, 1991; „Die Stadt der verlorenen Kinder“, 1995; „Sieben“, 1995; „Alien – Die Wiedergeburt“, 1997; „The Beach “, 2000; „Funny Games“, 2007; „Midnight in Paris“, 2011; „The Immigrant“, 2013) saugt die Figuren in eine hyperrealistische Düsternis: Körner im Licht, Schweiß auf der Haut, Hitze im Flirren – und immer wieder diese Horizontalen der Landstraße, auf denen das Zivilisatorische plötzlich in Western-Ikonografie kippt. Der Schnitt (Lucian Johnston) treibt den Herzschlag hoch, hält ihn dann qualvoll, und man meint, das asthmatische Rasseln des Protagonisten im eigenen Brustkorb zu spüren. „Eddington“ zeichnet die Gegenwart, als ein Kondensat aus Widersprüchen, Entfremdungen, Entgrenzungen: ein Inventurprotokoll westlich-zivilisierter Beliebigkeit – und gerade darin beklemmend präzise.
Der öffentliche Mensch
Inhaltlich bleibt Aster spoilerarm, aber unzweideutig: Es geht um Macht – nicht in ihrer seltenen, großen Form, sondern in ihrer alltäglichen Kapillarität. Um Masken und Mandate, um Wahlen und Willkür, um Nachbarschaften, die sich selbst nicht mehr kennen. Sheriff versus Mayor: Das ist nicht nur ein Plot, sondern eine politische Grammatik. Wer „Killing Them Softly“ (2012, mit Brad Pitt) als pessimistischen Kommentar auf die spätkapitalistische Weltenlage erinnert, wird hier einer Palliativ-Anamnese beiwohnen: Aster diagnostiziert nicht Therapie, sondern die Art und Weise unseres gespenstisch kompetenten Versagens – wie wir, bestens vernetzt und sanft ironisiert, kollektiv implodieren. Das Drehbuch stellt Hypothesen auf und zieht sie zugleich wieder ein; es lässt in jeder Szene die Versuchung der Eindeutigkeit blitzen, um sie im nächsten Bild zu verunmöglichen. Dabei zeigt „Eddington“ als „Western von innen“ das öffentliche Leben als Bühne, die privatisiert wurde: eine Stadtversammlung, die ins Facebook-Live wandert; eine Predigt, die zum TikTok-Clip verhornt; ein Hilferuf, der im Kommentargraben ertrinkt. Das alles kennen wir – und doch steht es hier wie zum ersten Mal da, ausgestellt, überdeutlich, böse.
Ein sehr reales, sehr böses Märchen

Formell ist das ein Triumph kalkulierter Überhitzung. Khondjis Kamera findet Gesichter wie Landschaften und Landschaften wie Gesichter: Grimassen der Risse, Poren als Trockentäler, das Weiß der Augen als Salzpfanne. Der Schnitt organisiert Eskalation als Geometrie: Dialog → Gegenschnitt → Schwenk in die Menge → Abrisskante – und wieder zurück. Aster und Johnston kennen das Publikum gut genug, um die nächste Wendung wie eine moralische Pflicht aussehen zu lassen; sie liefern stattdessen die unvermeidliche Steigerung des Wahnsinns, so logisch, dass man ihr nur mit gequältem Lächeln und hilflosem Schulterzucken begegnen kann. Bobby Krlic und Daniel Pemberton orchestrieren eine Musik zwischen heiserem Atem und fiebriger Posaune, die sich über das Geschehen legt wie ein Wärmestau – manchmal fast zu präsent um gehört zu werden.
Soziale Medien sind jederzeit anwesend, selten im Vordergrund, immer als subkutane Macht, die die Mikroökonomie der Blicke und Gesten regiert. Der Prediger (Butler) ist weniger Figur als Memetik: ein Algorithmus im Menschenpelz. Insgesamt ist die Inszenierung – Schauspiel, Kamera, Ton, Montage – so geschlossen, dass man unwillkürlich nach der Sollbruchstelle sucht. Sie liegt, wenn überhaupt, dort, wo Aster seine Misere des modernen Diskurses fast zu genießerisch ausstellt. Aber vielleicht muss es genau so sein, damit wir merken, wie süchtig wir nach dem „Aha!“ der moralischen Selbstvergewisserung geworden sind.
Ein schier unschlagbares Filmteam
Schauspielerisch stemmt ein Ensemble der ersten Riege diese tonale Gratwanderung. Phoenix spielt den Sheriff nicht als archetypischen Lawman, sondern als Mann, dem der Sauerstoff des Vertrauens ausgegangen ist; seine Pausen sind wichtiger als seine Sätze, sein Husten verrät mehr als jede Erklärung. Pascal setzt den Bürgermeister nicht als Schurken, sondern als Möglichkeitsmaschine: Er kann sich die Welt zurechtlächeln – oder sie anheizen, wenn das Lächeln nicht reicht. Stone, seltener im Zentrum und doch die Achse, hält einen Raum des Menschlichen offen, ohne ihn sentimental zu verzaubern. O’Connell geistert als hämisches Irrlicht wie die Zecke im Pelz im Hintergrund. Und Butler, dessen Figur digitale Erleuchtung performt, erinnert daran, dass das Sakrale in der Spätmoderne oft nur noch im viralen Schein existiert. Asters wiederholte Zusammenarbeit mit Phoenix nach „Beau Is Afraid“ ist spürbar: eine Regie, die nicht dirigiert, sondern reizen lässt. Die Besetzungs- und Gewerkeliste liest sich wie ein Statement – A24-Produktion, Square Peg, Khondji hinter der Kamera, Johnston im Schnitt – und sie erfüllt sich im Film. Dass „Eddington“ in Cannes debütierte und im Festivalzirkus weitergereicht wurde, passt: Es ist ein Werk, das sich im Diskursraum wohlfühlt, gerade weil es ihn an seine Kanten schiebt.
Fazit
Und inhaltlich? Der Film ist gnadenlos darin, beide Seiten (und alles dazwischen) zu demaskieren. Die Maskenskeptiker werden nicht heldisch verklärt, die Aktivist*innen nicht als Heilsfiguren gesetzt. Aster teilt aus, in alle Richtungen, und zeigt, wie die moralische Grammatik der Jetztzeit – Empörung, Pose, Proxy Rage – den Blick versperrt auf das, was bitter bleibt: Angst, Verlust, Müdigkeit. „Eddington“ ist dabei kein Thesenpamphlet; es ist eine Versuchsanordnung, die erkenntnistheoretisch pathetisch wird – im besten, altmodischen Sinne. Das, was gewöhnlich als „gesellschaftliche Spaltung“ beschworen wird, erscheint hier als mechanischer Prozess: Grammatik der Zuspitzung, Logik der Tribalisierung, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die Western-Form – Standoff, Staub, Hand-am-Colt – dient dabei als ironischer Spiegel: Der Frontier-Mythos hat nie die Prärie verlassen; er hat nur einen wohlfeilen Zweitwohnsitz in den Kommentarspalten gefunden. Dass die Reaktionen geteilt sind, überrascht nicht: Die einen feiern die Kompromisslosigkeit, die anderen beklagen kalkulierte Hohlheit.
Ich hingegen würde es so formulieren: Diese Leere ist keine Pose; sie ist die Wahrheit des Materials, aus dem wir gerade unsere Öffentlichkeit bauen. Und genau deshalb funktioniert „Eddington“ als Soziopic – großartig und desaströs zugleich.
| Filmstart: | 20. November 2025 |
| Land/Jahr: | USA, 2025 |
| Regie: | Ari Aster |
| Cast: | Joaquin Phoenix, Emma Stone, Pedro Pascal, Deirdre O’Connell |
| Länge: | 145 min |
| Genre: | Drama, Satire, Western, Komödie |
| Altersfreigabe (FSK): | 16 |
| Bewertung: | 9/10 |

