Nahaufnahme eines Bienenstocks

Auf der Suche

Nahaufnahme eines Bienenstocks
Abb.: Der Bienenschwarm, das ikonische Bild einer steten Geschäftigkeit und Suche (Foto: Seagul, CC0)

Lesezeit: ca. 4 min

Als ich vor ein paar Tagen, am Ende einer geschäftigen und herausfordernden Woche ungefähr anderthalb Stunden einfach nur so dasaß, ohne Ziel, ohne Richtung, weder mit etwas ausdrücklich befasst, noch in der Absicht „in die Stille zu gehen“, wurde es mir wieder einmal deutlich, welches eine der mächtigsten Kräfte des menschlichen Dasein ist: Die Suche.

Insgesamt zwei Tage verbrachte ich mittels geeigneter Methoden und tauglicher Instrumente1, den zunächst kaum wahrnehmbaren Taten-Rausch zurückzuführen auf ein gleichmütiges Fließen. Einmal in die reißende Strömung des ablenkungsgewaltigen Alltages versetzt, mit all ihren Notwendigkeiten, Verantwortlichkeiten, Sachzwängen und Terminierungen, fällt es auf fortschreitender Zeitachse um so schwerer, bewusst im Schauen zu verweilen und das heilsame Moment der Relativierung aufrecht zu halten. Aufgaben finden ihre Prozesse, Prozesse finden ihre Struktur und die Struktur gaukelt eine Selbstverständlichkeit vor, die das gewöhnliche Selbst in Sicherheit wiegt. Solcherart gehätschelt verengt sich der Wahrnehmungskorridor zu einer schmalen Tunnelröhre, zuerst unwillig, später unfähig die Welt außerhalb des selbst gezimmerten Erlebnisraumes für wahr zu halten.

Ein selbstbezüglicher Regelkreis aus Erwartungen – im Positiven Hoffnung, Planung, Ziel genannt, im Negativen ummantelt durch Bangen, Ausweichen und Vermeiden – und Auswertung der vorgenommenen Anstrengungen hält einen auf den Gleisen der selbstauferlegten oder fremdbestimmten Pflichterfüllung und gewährleistet die zivilisatorische Funktionstüchtigkeit.

So weit so gut. Dies kann durchaus glaubhafter, gewollter und nachvollziehbarer Teil unseres, meines Daseins sein. Erstaunlich dabei ist jedoch, wie kraftvoll, schnell und doch subtil, ja fast unmerklich sich dieser Betriebsmodus in die eigene Realität einschleicht und selbige immer wieder zu dominieren in der Lage ist. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das konstruktive Sorgen um die Existenz, gepaart mit einer belebenden Antriebskraft ist uns als Lebensodem quasi in die Wiege gelegt worden. Dies beginnt schon mit der ersten Zellteilung im Mutterleib und endet erst mit dem letzten Atemzug. Es ist eine notwendige und hinreichende Bedingung unserer menschlichen Existenz, gleichzeitig Segen, Herausforderung und Bürde.

Frau in den Bergen vor Sonnenuntergang
Abb.: Die Kunst des In-sich-Ruhens – ohne RIchtung und Anstrengung (Foto: Kasuma F. Gruber, CC0)

Interessant daran ist, wie diese Hingabe an das Sein sich gegen uns wenden, sich ins Gegenteil verkehren kann und damit aus der ursprünglichen Weite eine beklemmende Enge macht. Sichtbar wird dies besonders gut im (scheinbaren) Konstrast zwischen Betriebsamkeit und Entspannung. Der Zustand des inneren Friedens, der Stille, der Leerheit ist grundsätzlich der Ausgangspunkt einer jeden Existenz. Das Leben als solches – als ganz spezieller, aufgefächerter Ausdruck von Bewusstsein2– fordert die Bewegung als solche heraus, das Positionieren in der Dualität, das immer wieder von Neuem in Gang gesetzte Herstellen eines zerbrechlichen Gleichgewichtszustandes, der von außen stetig Störungen erfährt.

Im Zuge dieser anspruchsvollen Aufgabe eignet sich der innere Steuerungscomputer ein vielfältiges Repertoire aus Techniken und Strategien an, die geeignet sind, Erfolg versprechend und angemessen auf alles Einströmende zu reagieren. Ermuntert sowohl durch Triumphe als auch Niederlagen in der Meisterung dieser Übung setzt der gewöhnliche Geist immer früher an beim Eingreifen. Geht es zuerst um eine stimmige Reaktion während des Auftauchens von äußeren Lektionen, wird im nächsten Schritt die Wahrnehmung im Vorfeld geschärft, bis das vernunftgesteuerte System irgendwann einmal die Fähigkeit zur Vorhersage von sich behauptet.

Magische Kristallkugel in rötlicher Umgebung
Abb.: Eine Kristallkugel zum Wahrsagen – unterhaltsam auf einem Jahrmarkt, untauglich als Methode des Verstandes (Foto: Flávio Britto Calil, gemeinfrei)

Spätestens dies ist der Moment, wo Vorsicht geboten ist. Die stille Annahme, aus der Vergangenheit, also Erfahrungen, Erkenntnissen und Fähigkeiten, auf eine nahe oder ferne Zukunft und den daraus folgenden Umgang mit derselben schließen zu können, liegt zwar nahe, vernachlässsigt aber drei wichtige Gegebenheiten: Erstens die unerfassbare Vielfalt des gesamten Daseins3, zweitens das darauf aufbauende, natürliche Streben nach Unordnung4 und drittens die unvorhersehbare Herausbildung von Neuem aus Bestehendem5.

Die relativ hohe Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Voraussage verleitet zur Vorstellung einer generellen Tauglichkeit dieser Herangehensweise. Gepaart mit der o. g. belebenden Antriebskraft, die in ihrer unhinterfragten Form einem Perpetuum Mobile gleicht und der daraus entstehenden Selbstbezüglichkeit gebiert sich ein nie ermüdender, nach Zusammenhängen und Verbesserungmöglichkeiten schnüffelnder Höllenhund. Dieser sichert sich, im Dreisprung aus Wahrnehmen, Verstehen und Tun eine endlose Beschäftigung mit sich selber. Er ist auf der Suche – einer gierigen Suche nach Eindrücken, Ablenkungen, Beschäftigungen.

Dabei wird unverkennbar sichtbar, dass dieses Gebaren einen gewissen Suchtcharakter beinhaltet. In einer nicht endenden Nachahmung seiner selbst hält sich die Maschinerie auf Trab und beraubt sich in letzter Konsequenz sogar ihres heilsamsten „Medikamentes“, der Meditation, indem es selbige zum Erfolg einfordernden „Entspannung-Herstellen“ degradiert, dessen Tauglichkeit an äußeren Maßstäben gemessen wird, anstatt sich im Fühlen selber zu erleben.

Und da sich diese unheilsame Suche über alle Lebensbereiche erstrecken kann und vor dem Hintergrund der Gepflogenheiten der umgebenden Gesellschaft schnell unscharf wird und schließlich gänzlich unsichtbar, halten wir sie für normal6.

Nun soll es hier nicht darum gehen, Regeln aufzustellen oder Prüfmethoden zu etablieren, die ein „gesundes Mittelmaß“ behaupten, nein, vielmehr geht es darum, eine Wachheit gegenüber diesen Mechanismen zu wecken, die geeignet und in der Lage sind, jeden und jede einzelne(n) zu befähigen, von jedem beliebigen Erlebnisstandpunkt aus auf sich selber und sein/ihr Denken und Handelns zu ermöglichen. Dies ist der erste Schritt: Schauen und Erkennen. Danach kommt erst einmal gar nichts, kein Bewerten, kein Folgern, kein Handeln. Lediglich eine absichtsloses Achtsamkeit dessen, was ist.

Und so schloss sich bei mir nach einem milden Lächeln eine weitere Stunde ineffizienten Herumsitzens an.
Danke.

  1. Je nachdem, welcher bevorzugte Betriebsmodus bei einem selber gerade offen ist – das Denken oder das Fühlen – und wohin die Situation einen gebracht hat – Notwendigkeit zum Druckabbau, Wiederfinden eines Orientierungspuntes, etc. – können entweder eher dynamisch-kraftvolle oder konzentrativ-beruhigende Meditationstechniken oder sogar eine geschickte Kombination von beidem hilfreich sein.
  2. Zu dem Begriff „Bewusstsein“ siehe die kurze Erklärung zu den unterschiedlichen Begriffsbedeutungen dieses Wortes auf der Seite Samadee – Bewusstwerdung. Gemeint ist hier die letztgenannte Variante.
  3. Gemeint ist, dass sich die komplexe und interdependente Diversität aller Erscheinungen, Prozesse und Entitäten nicht im Sinne eines Laplaceschen Dämons streng deterministisch erfassen lässt.
  4. Diese, Entropie genannte Größe, bekannt aus der Thermodynamik beschreibt die Unumkehrbarkeit von (physikalischen) Prozessen. Im größeren Zusammenhang umreißt dieser Begriff das Bestreben des Universums nach sich differenzierder Durchmischung.
  5. Hier steht der Begriff der Emergenz im Mittelpunkt. Er umschreibt das Entstehen von Eigenschaften aus einem System heraus, die selbst bei Bekanntsein aller Einflussvariablen nicht vorhersehbar waren.
  6. Ein sehr informatives Buch zur Problematik der kollektiven Normalisierung von eigentlich unheilsamen Verhaltensweisen und Einstellungen ist das folgende Werk: Maaz, Hans-Joachim: Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. C. H. Beck, München, 2017. ISBN 978-3-406-70555-7 (z. B. bei Amazon für 16,95 EUR erhältlich).