Eugen Drewermanns eindringlicher Appell zum Frieden
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Wenn ich ausreichend angebunden bin an mich selber und gleichzeitig in der Welt da draußen dasselbe auf jemand anderen zutrifft und wir darüberhinaus die Gnade haben, voneinander zu erfahren, kann soetwas Wunderschönes wie Resonanz entstehen. Selbiges widerfuhr mir letztens in eindrucksvoller Weise: Ich war von einer Rede zutiefst berührt.
Tatort Kaiserslautern, eine knapp 100.000 Einwohner zählende Gemeinde mit über 700-jähriger Geschichte am Rad des Pfälzerwaldes, bekannt vor allem durch die in der Zweiten Fußball-Bundesliga spielenden „Roten Teufel“. Im Rahmen der Aktionswoche 2017 lud das Aktionsbündnis Ramstein-Kampagne am 8. September 2017 von 19:00 – 22:00 Uhr zu einer Abendveranstatung unter der Titel „Nein zu Drohnen und Atomwaffen – Ja zu Frieden und Gerechtigkeit in der Welt“. Das Programm fand statt in der erst ein halbes Jahrhundert alten, in ihrer betonierten Modernität vor allem an einen Luftschutzbunker erinnernden Versöhnungskirche statt. Insgesamt drei Gastredner, Ann Wright, eine ausgeschiedene Stabsoffizierin der US-Army (wegen der verheerenden Flut in Houton/Texas nicht persönlich anwesend, dafür per Video zugeschaltet), Eugen Drewermann, ein deutscher Theologe und Kirchenkritiker, sowie der Schweizer Geschichtswissenschaftler Daniele Ganser gestalteten das Programm, bevor das Publikum an einer offenen Diskussion teilnehmen konnte.
Um gleich zum Punkt zu kommen: Auch wenn die Beiträge durch Wright und Ganser höchst interessant für mich waren, vor allem vor dem Hintergrund meiner eigenen Vita, behielt ich vor allem den Vortrag von Eugen Drewermann bewegt in meinem Herzen. Es macht also vor dem Weiterlesen Sinn, sich etwa eine halbe Stunde Zeit zu nehmen und den kompletten Mitschnitt zuerst einmal anzuschauen:
Gänsehaut.
Mich ergriff am ganzen Körper ein Schauer. Kalt und heiß lief es mir den Rücken hinauf und hinunter, was mich vermuten ließ, dass hier jemand nicht nur eine in höchstem Maße politische Aussage getätigt hat, sondern vor allem ein Herzensanliegen glaubhaft und authentisch weitergab. Nun soll es hier nicht um die Person Drewermann gehen. Ich würde ihn kurz als jemanden bezeichnen, der bereit und Willens ist, hinter die dogmatischen Vorhänge einer von ihren Mitgliedern entfremdeten Amtskirche zu schauen. Dabei war er sich nicht zu schade, Unliebsames auszusprechen, Bedenkenswertes in Frage zu stellen und seine Auffassung gegen den Sturm der klerikalen Entrüstung aufrecht zu erhalten, sprich: Rückgrat zu zeigen.
Eine streitbare Persönlichkeit
Das hat ihn in den frühen neunziger Jahren zunächst die Lehrerlaubnis an der Universität Paderborn und schließlich sein Priesteramt gekostet. Mitte der nuller Jahre schließlich gab er seinen Austritt aus der römisch-katholischen Kirche bekannt. Ein streitbarer Geist also, vielleicht ein Querkopf, auf keinen Fall ein duckmäuserischer Taktierer – und wenn ich mir obiges Video anschaue, vor allem ein alter Mann.
Als 40er-Jahrgang hat er dieses Jahr seinen 77. Geburtstag gefeiert. Er ist also einer der wenigen Verbliebenen, die, wenn auch aus kindlicher Anschauung, vom Wesen und Folgen des Krieges aus erster Hand berichten können. Damit hat er den meisten von uns etwas voraus. Und genau dieses Erfahrungswissen wirft er mit furchtloser Unvoreingenommenheit, einsichtiger Reife und vor allem mahnender Inbrunst in die Waagschale unserer Realität. Mir kam in diesem Zusammenhang gleich die Erinnerung an Stéphane Hessels grandioses „Empört Euch!“.1 Offenbar braucht es eine Instanz, die uns daran erinnert, worum es uns selber einmal ging, bevor wir fremdauferlegten Sachzwängen, wohlfeiler Zerstreuung und lähmender Trägheit anheimfielen.
Doch was steckt noch hinter diesem sich auf die aktuelle Tagespolitik beziehenden Appell? Worum könnte es in tieferen Verständnisebenen noch gehen, neben dem Aufruf zur staatlichen Gewaltfreiheit?
Ich könnte jetzt – ich tue dies oft und gerne – über die Eigenheiten von Kriegen fabulieren, die Frage nach deren Rechtmäßigkeit, über Angemessenheit und Eingrenzbarkeit schreiben. All dies will ich hier ausklammern. Es wurde bereits und wird auch in Zukunft an anderer Stelle thematisiert.
Der Krieg als Konstante?
Nein, hier soll es um einen anderen Aspekt gehen. Nehmen wir einmal, wie in einer mathematischen Gleichung an, dass Krieg ein feststehender, immerwährender und nicht überwindbarer Bestandteil des menschlichen Daseins sei – neben allen anderen Übeln, welche schon immer Teil des Lebens waren. Vernachlässigen wir ferner, dass Kriege vor allem von sog. Repräsentanten (Stammesführern, Fürsten, Königen, Regierungen, je nach bestehender Entwicklungsebene und zu Grunde liegender Staatsorganisation) großer Kollektive angezettelt werden und von den Geführten auszutragen waren und sind.
Dann bleibt doch vor allem eine, diese Erscheinung im Kern charakterisierende Grundvoraussetzung bestehen: Die tiefgreifende, absichtsvolle oder aus einem Missverständnis heraus entstandene Meinungsverschiedenheit zwischen den beteiligten Parteien. Diese wiederum gebiert in ihrer sich stufenweise steigernden Wirkmächtigkeit die folgenreiche Bereitschaft, den eigenen, tatsächlichen oder sinnbildlichen Raum unter Aufbietung aller als geeignet betrachteten und zur Verfügung stehenden Mittel verteidigen zu wollen. In letzter Konsequenz dehnt sich dieser „Selbsterhaltungswille“ über den eigenen Verfügungsrahmen soweit hinaus, dass sogar die Existenzberechtigung der Gegenseite von Grund auf in Frage gestellt werden kann.
Wenn wir dieses Szenario nun aus dem makroskopischen Bereich der zwischenstaatlichen Konflikte einmal drei Ebenen hinunterbrechen auf die inneren Sorgen und Nöte einer einzelnen Person, dann kann aus dem spätsommerlichen Aufruf aus der Versöhnungskirche etwas revolutionär Neues herausgehört werden, das ihn in Opposition setzt zu einer Reihe bekannter Aufforderungen der Religionsgeschichte.
Ob es im zentralen Werk des Islam, dem Koran, als Dschihad, also innere „Bemühung[…] sich den bösen Gelüsten und Verführungen entgegenzustemmen“2 oder als göttliche Zusage zur Unterstützung im militärischen Kampf gegen Andersgläubige3 auftaucht, ob es sich im alten Testament, sowohl für das Judentum, als Teil des Tanach, als auch für das Christentum gültig, an verschiedenen Stellen als martialisch-heroische Schlachtbeschreibung oder mythologisierte Gottesgewaltandrohung4 wiederfindet oder ob es ganz pragmatisch als zu erledigende Aufgabe in der Rahmenhandlung der hinuistischen Bhagavad Gita miterzählt wird5, immer ist Gewalt ein notwendiges Übel, aber probates Mittel, um einen entgegengesetzten Standpunkt durchzusetzen.
Und wenn man sich die endlose Liste stattgefunden habender Kriege anschaut und den Akteuren wohlwollend zuhört, wird man bemerken, dass die Argumente der Befürworter und Dulder von staatlicher Gewalt immer die gleichen sind: Begründetheit, Verhältnismäßigkeit, Handlungsnotwendigkeit, Alternativlosigkeit, auch wenn sie über kurz oder lang einen Frieden bringen oder erzwingen, der immer nur so weit trägt, bis der nächste Krieg ausbricht.
Der ungeschönte Blick nach Innen
Hinunter transponiert auf den inneren Erfahrungsraum mit all seinen Möglichkeiten, Herausforderungen, Grenzen und Widersprüchen erkennen wir schnell, dass dieses unheilige Instrumentarium mit all seinen Erscheinungsformen in uns selber einen unaufhörlichen Prozess abbildet. Die meisten von uns führen einen endlosen, inneren Krieg. Das schöne an diesem Bild ist, dass ohne Umwege und ausgefeilte Argumentationsketten schnell sichtbar wird, dass es bei einem Kampf gegen sich selber einen Gewinner von vorneherein niemals geben kann.
Was Drewermanns Appell auf einen anderen Kontext bezogen nun behauptet, ist nichts weiter, als dass dieser Krieg ein Ende haben muss. Jetzt. Hier. Denn bezüglich aller Lösungsversuche in der Vergangenheit kann ohne Wenn und Aber die Bilanz gezogen werden, dass sie schlichtweg versagt haben. Weil wir eine, die, vielleicht die einzige Option bisher nicht einmal in Erwägung gezogen haben, nämlich die Waffen zu strecken. Es geht also darum, nicht mehr aus irgendwelchen fadenscheinigen oder billigen Gründen in fremde Territorien einzufallen, zweifelhaft Handelnden mit zwielichtigen Absichten zu Seite zu stehen oder für andere mit unserem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis eine Bedrohung darzustellen.
Ich rede jetzt hier von unserem psychischen Raum, an deren vielfältigen und teilweise undurchschaubaren und oftmals sogar unbekannten Frontlinien die fahrlässige oder planmäßig Selbstzerstörung das gewohnte Grundrauschen darstellt. Wo überall in uns Scham, Abscheu oder Wegschauen wirksam sind und ihre steten Urstände feiern, gilt es hinzuschauen, milde, liebevoll. Dort gilt es in erster Instanz, zu ertragen, dass da ein Panoptikum von Widersprüchen, unbeantworteten Fragen, tiefen Verletzungen und vielleicht sogar unendlichem Leid vorzufinden ist.
Und weil wir dem Kampf eine Absage erteilen, steht uns plötzlich ein ganzes Leben zur Verfügung, ein Leben, die Ungereimtheiten zu ergründen, anstatt die inneren Heere gegeneinander antreten zu lassen, ein Leben, uns selber hingebungsvoll zuzuhören, anstatt das innere Waffenarsenal sprechen zu lassen, ein Leben, die Schmerzen zu lindern, anstatt neue zu erzeugen.
Innere Hinwendung, Eingeständnis, Handlung
Das erfordert freilich, innerlich abzurüsten – und Berührung, auch zunächst vielleicht schmerzhafte, erst einmal zuzulassen. Es gebietet, die eigene Schwäche zu respektieren, die Ängste bewusst zu erleben und die Zerbrechlichkeit hinter der einengenden, eigenen Panzerung zu erdulden.
Irgendwann einmal dann stellt sich dann das innere „Ecce Homo“ ein, der Moment, in dem sich wehrlos, nackt und bloß die alten Kontrahenten gegenüberstehen und sich einander überantworten. Das nennt man dann Angebundenheit und dort findet Berührung statt.
Dazu zum Abschluss ein weitere Zitat des von Drewermann erwähnten Erasmus von Rotterdam aus seiner Schrift „Dulce bellum inexpertis“ (lat. „Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen“):
„Es ist jetzt schon soweit gekommen, dass man den Krieg allgemein für eine annehmbare Sache hält und sich wundert, dass es Menschen gibt, denen er nicht gefällt […] Wie viel gerechtfertigter wäre es dagegen, sich darüber zu wundern, welch’ böser Genius, welche Pest, welche Tollheit, welche Furie diese bis dahin bestialische Sache zuerst in den Sinn des Menschen gebracht haben mag, dass jenes sanfte Lebewesen, das die Natur für Frieden und Wohlwollen erschuf, mit so wilder Raserei, so wahnsinnigem Tumult zur gegenseitigen Vernichtung eilte. Wenn man also zuerst nur die Erscheinung und Gestalt des menschlichen Körpers ansieht, merkt man denn nicht sofort, dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen habe? Ein jedes der anderen Wesen stattete sie mit eigenen Waffen aus, den Stier mit Hörnern, den Löwen mit Pranken, den Eber mit Stoßzähnen, andere mit Gift, wieder andere mit Schnelligkeit. Der Mensch aber ist nackt, zart, wehrlos und schwach, nichts kann man an den Gliedern sehen, was für einen Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre. Er kommt auf die Welt und ist lange Zeit vor fremder Hilfe abhängig, kann bloß durch Wimmern und Weinen nach Beistand rufen. Die Natur schenkte ihm freundliche Augen als Spiegel der Seele, biegsame Arme zur Umarmung, gab ihm die Empfindung eines Kusses, das Lachen als Ausdruck von Fröhlichkeit, Tränen als Symbol für Sanftmut und des Mitleids.“6
- Hessel, Stéphane: Empört Euch! Ullstein, Berlin, 2011. ISBN 978-3-550-08883-4, z. B. bei Amazon für 5,– EUR erhältlich.
- Spuler-Stegemann, Ursula: Die 101 wichtigsten Fragen – Islam. C. H. Beck, München, 2017. ISBN 978-3-406-70889-3. S. 125, z. B. bei Amazon für 10,95 EUR erhältlich.
- z. B. Sure 22 „Die Pilgerfahrt“, Vers 39f. „Denjenigen, die (gegen die Ungläubigen) kämpfen (so nach einer abweichenden Lesart; im Text: die bekämpft werden) ist die Erlaubnis (zum Kämpfen) erteilt worden, weil ihnen (vorher) Unrecht geschehen ist. Gott hat die Macht, ihnen zu helfen.“
aus: Paret, Rudi: Der Koran – Deutsche Übersetzung. Kohlhammer, Stuttgart, 1979. ISBN 978-3-17-008054-6, z. B. bei Amazon für 24,– EUR erhältlich. - z. B. die Eroberung von Jericho, Jos 6,4–20 bzw. Ex 23,24 „Ich will meinen Schrecken vor Dir her senden und alle Völker verzagt machen, wohin Du kommst, und will Dir geben, daß deine Feinde vor Dir fliehen.“
aus: Luther, Martin; Evangelische Kirche in Deutschland, und Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Die Bibel: nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1985. ISBN 978-3-438-01032-2, z. B. bei Amazon gebraucht für ca. 25,– EUR erhältlich. - Kap. 2, Vers 3, „…gib dieser entwürdigenden Schwachheit nicht nach. Sie ist dir nicht angemessen. Gib diese kleinliche Schwäche auf und erhebe dich, o Bezwinger des Feindes.“
aus: Abhay Charan Bhaktivedanta Swami Prabhupada: Bhagavad-gītā, wie sie ist: Übersetzung und Kommentierung von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada. Bhaktivedanta Book Trust, Grödinge/Schweden, 2012. ISBN 978-91-7149-651-5, z. B. bei Amazon für 22,– EUR erhältlich. - Brigitte, Hannemann (Hrsg.); von Rotterdam, Erasmus (Autor): Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen. Chr. Kaiser, München, 1992. ISBN 978-3-459-01669-3, z. B. bei Amazon hgebraucht für ca. 3,– EUR erhältlich.