Von der Suche nach der Grundlage von Auslandseinsätzen
Zugegeben, Soldat des Deutschen Einsatzkontigentes in Afghanistan zu sein ist eine nicht unerhebliche Herausforderung. Im grellen Scheinwerferlicht zwischen simplifizierenden Politikern, sensationsgierigen Medien und ablehnender Heimatbevölkerung zu stehen, erfordert schon Einiges an diplomatischem Feingefühl, militärischer Erfahrung und unbeirrbarer Beharrlichkeit.
Auch darf nie vergessen werden, dass der eigentliche Bedarfsträger eines solchen friedenserzwingenden Einsatzes weit jenseits dieser drei Spielplätze, räumlich also außerhalb der mittelalterlich anmutenden Einfriedung eines hochabgesicherten Feldlagers zu suchen ist.
Um in der Vielfalt der Aufgaben nicht unterzugehen, sind solcherart dienenden Personen sind gute drei bis vier Hundertschaften an spezialisiertem Führungspersonal zur Seite gestellt.
Fachleute, deren tägliches Tun bestimmt ist von Informationssammlung, -ordnung und -bewertung, Erarbeitung sachdienlicher Handlungsalternativen und schießlich kritischer Begleitung der Umsetzung Selbiger.
Diese führungsbegründende Unterstützung bedarf zu ihrer erfolgreichen Durchführung klarer Kompetenzzuweisung, definierter Prozessabläufe und wirksamer Kontrollinstrumente.
So weit, so gut.
Weit oberhalb dieses komplexen Leitungsorganismus steht, Primat der Politik genannt, die übergeordnete, sachliche Sinngebung eines solchen Mammutprojektes. Am Ende einer parlamentarischen Beschlussgenese steht so bestenfalls ein von seiner Richtungsvorgabe her unmissverständliches, hinreichend granulares, von seiner personellen, materiellen und damit finanziellen Ausstattung her angemessen unterfüttertes und von seinem Handlungsspielraum her notwendigerweise robustes Mandat. Dieses sollte die zu entsendenden Soldaten in die Lage versetzen, den formulierten Gesamtauftrag auch unter der nicht unwahrscheinlichen Annahme grundsätzlicher Lageänderungen zufriedenstellend zu erfüllen. Die Brisanz des Adjektives “zufriedenstellend” ist dabei nicht zu unterschätzen. Bilder von Särgen umgekommener Soldaten, Berichte von schutzlos sich selber überlassener Bevölkerung und veröffentlichte Rügen seitens rechnungsprüfender Behörden sind dabei als eher nicht Verständnis fördernd in der bundesdeutschen Wählerschaft zu beurteilen.
Aber abseits all dieser vordergründig technokratischen Verwaltung eines derartigen Abenteuers liegt noch eine Perspektive, deren allenthalben wahrnehmbare Nicht-Wahrnehmung Beachtung finden sollte.
Was, in seinem Kern, treibt uns eigentlich dazu, in einem völlig fremden Land den Einwohnern, die ihre gegenseitige Interaktion auf einem kommunikativen Zeichenvorrat begründen, der einem westlich sozialisierten Europäer – und einem Nordamerikaner zumal – schlichtweg unverständlich erscheinen muss, Nachhilfe in Sachen Leben geben zu wollen?
Die Antwort auf diese Frage kann doch wohl nur auf der Überzeugung von unseren eigenen Werten begründet sein.
Also sollten wir den Blick folgerichtig nicht zuerst nach außen wenden, dorthin wo wir – möglicherweise vermeintlich – das Fehlerhafte vorgefunden zu haben meinen, sondern nach innen, dorthin, wo unser Referenzsystem im täglichen Erleben an und um uns kondensiert. Auf dass wir, gut gerüstet durch eine klare Vorstellung vom genäherten Ideal, stetig die Kraft und Motivation schöpfen, hilfreicher Dienstleister für eine „gescheiterte“ Nation zu sein.
Doch der Blick nach innen verheißt derweil nicht Gutes.
Was sind im 21. Jahrhundert die Tugenden, die als Leitbild und Maßstab unseres Handelns dienen können?
- Perfektionierter Bürokratismus ohne Gestaltungsspielraum?
- Distanzierter Paternalismus mit traditioneller Strenge?
Wohl kaum!
Doch viel wichtiger: Wo liegen die Grundlagen dieser potentiellen Tugenden?
Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und als Rechtsphilosoph der Ritter’schen Realitätsperzeption zuzurechnen, hat Mitte der siebziger Jahre zurecht festgestellt, dass die “moralische[n] Substanz des einzelnen”, also ein über die kodifizierbare Verfasstheit deutlich hinausreichendes Mysterium Grundlage unseres freiheitlich orientierten Gemeinwesens ist und dass demgegenüber die intrinsische Sicherstellung dieser Verfassheit durch Zwang zur Preisgabe eben dieses heiligen Grundwertes “Freiheit” führt.
Die Bundeswehr, als Destillat einer Nachkriegsordnung, unterliegt dabei diesem Befund ebenso, wie der “friedliche” Rest der deutschen Bevölkerung.
Um so dringender scheint es geboten, dass ein deutscher Soldat Flagge zeigt. Nicht für die verschriftlichte Rechtsstaatlichkeit. Dieses Bekenntnis ist notwendigerweise unverhandelbare Voraussetzung des Einsatzes einer Person auf einem Dienstposten im Auslandseinsatz. Nein, es geht um das vage, aber niemals ausblendbare Hintergrundrauschen, welches diese Rechtsstaatlichkeit stetig nährt.
In vor-säkularen Zeiten hätte man von Glauben gesprochen. Glauben in religiösem Sinne. Die konfessionellen Bürgerkriege des ausgehenden Mittelalters und der frühen Moderne haben mit der Macht des Faktischen das Eingestehen des individuellen Begründetseins auf eine (christliche) Religion derweil in das Reich des Fakultativen verbannt.
Es ist jedoch ein Trugschluss, anzunehmen, dass damit für alle Zeit die persönliche Offenbarung gegenüber dem Transzendenten obsolet geworden sei. Der Verlust eines dedizierten Symbolvorrates wegen Unattraktivität erzeugt nämlich zunächst einmal nichts Anderes als ein Vakuum.
Und der hilflose Versuch, diese Leere durch angestrengtes Beschäftigtsein überspielen zu wollen, erweist sich schnell als vergeblich.
Es geht demnach um einen Glauben in einem nicht zwingend religiösen Sinne.
Welche Alternativen zur Spiritualität existieren also?
Einen Glauben an den Rechtsstaat, seine Institutionen und Verwaltungsakte kann es per Definitionen nicht geben, weil alle diese Entitäten schon nur ein Derivat von etwas Vorangegangenem sind.
Wohin ein blindes Vertrauen führen kann, erwies sich speziell in der deutschen Vergangenheit erschreckend. Das Berufen auf das Kalte, Abstrakte, mag eine bequeme Usance sein, ein behaglicher Lösungsansatz ist es freilich nicht. Nichts desto trotz gewinnt man innerhalb solcher Systeme heutzutage trotzdem schnell den Eindruck, dass diese Erkenntnis allenthalben noch nicht realisiert, geschweige denn verinnerlicht wurde. Der entschuldigende Mythos von geteilter, deligierter und verklausulierter Verantwortung feiert also weiterhin seine fröhlichen Einstände.
Der Glauben an das eigene Tun hingegen offenbart die tragische Komik einer hilflosen Selbstbezüglichkeit, egal ob auf individueller oder kollektiver Ebene. Letztere wird dann gerne als schlagkräftiges Argument ins Feld geführt: Je mehr etwas denken, sagen oder tun, um so wahrer wird es. Gerade so, als ob dies eine Frage der Addition wäre. Annehmend, dass das eigene Handeln durch korrekte Befehlsgebung weitgehend gesichert sei vor fehlerhaften Grundannahmen, wird der Kant’sche Nachahmungsmaßstab wahlweise zum ego- oder soziozentrischen Richtwert pervertiert.
Dann gäbe es weiterhin den Glauben an den bisher überlebensfähigsten Ersatz von Religion, das kapitalistische Wirtschaftssystem. Den Eindruck gewinnend, dass es unseren Politikern seit geraumer Zeit ausschließlich um die Huldigung des Mammons ginge, wäre es ein Leichtes, sich dem Ruf der Apologeten einfach anzuschließen. Die jedem Menschen schnell und unmissverständlich vermittelbare Grenze zwischen Heiligem und Profanen, das Zelebrieren von Riten und die scharfe Sanktionierung von Tabubrüchen sind ohnehin schon fester Bestandteil der Lebensrealität.
Warum also das militärische Handeln nicht ausschließlich dem Nimbus der Ökonomie unterordnen? Die Deutsche Marine hat diesen Denkansatz in einem (lächerlichen) Werbevideo kürzlich sowieso schon zur Erklärung ihres Selbstverständnisses herangezogen.
Das Geld, seine systemtheoretischen Erklärungsversuche und praktischen Ausprägungen mögen vielleicht dem Handel und dem Dienstleistungswesen dienlich sein. Transzendent ist dieser Themenkomplex jedoch nicht. Vielmehr ist er die Konkretisierung des Konkreten, das greifbargemachte Greifbare schlechthin. Weshalb dieses Modell ja auch so erfolgreich ist in der Welt: Sieh her, Du gehst arbeiten, erhältst eine Bezahlung dafür, kaufst Dir etwas, wodurch des Anderen Arbeit wiederum gesichert ist. Und wenn Du Dich verweigerst oder nicht passgenau genug bist, wirst Du geächtet.
Dem geneigten Leser wird spätestens hier aufgefallen sein, dass dieser Glaubensgegenstand aus einer mitteleuropäischen Perspektive weder zur Erbauung noch zur Sinngebung taugt, da uns in allerkürzester Zeit schmerzlich bewusst würde, dass ihm eine ebensolche Gesinnung mit diabolischer Symmetrie gegenübersteht.
Eben jene Warlords, die es zu überzeugen oder ehrlicher ausgedrückt zu bekämpfen gilt, missionieren nämlich genau dieses Dogma mit dem Preis von Blut, Schweiß und Tränen.
Wo also finden wir uns wieder? Was darf von einer zeitgenössischen, mitteleuropäischen Armee diesbezüglich erwartet werden? Zumal, wenn sie sich einer Horde, evolutionär gesehen, wilder Stammeskrieger gegenüber sieht. Wie schwören wir uns implizit und nicht durch die große Geste auf die gemeinsame Aufgabe ein?
Die Errungenschaften der Moderne bieten darauf kaum, und wenn, dann bestenfalls unbefriedigende Antworten. Und wohlgemerkt: Hier geht es primär nicht um den Umgang “mit dem Feind”. Sondern zunächst einmal um die eigenen, gelebten Grundlagen, um das Kern-Selbstverständnis.
Welche Indikatoren können also nun an einem Soldaten ausgemacht werden, die Antwort zu geben in der Lage sind, wes Geistes Kind er ist?
Auf welche unveräußerlichen Werte stützt er sich? Woher bezieht er den übergeordneten Sinn seines Handelns? An was glaubt er? Und geht uns das überhaupt etwas an?
Die letzte Frage darf auf jeden Fall mit einem deutlichen “Ja” beantwortet werden. Diesbezüglich darf es keinen Raum für Spekulation geben. Auch und vielleicht gerade nicht auf dem Terrain der Soft-Skills.
Die Fragen davor sind nur durch Beobachtung zu beantworten:
- In den sonntäglichen Gottesdienst geht er überwiegend nicht, aber das muss er auch nicht.
- Mit ehemaligen Kriegsverbrechern unterhält er sich, weil es nicht anders geht.
- Gegenüber den im Lager beschäftigten, zivilen Angestellen pflegt er ein unterkühltes Verhältnis. Das kann seiner Berührungsangst in Bezug auf drohende Fraternisierung, schlichter Ignoranz oder der Tatsache geschuldet sein, dass er den unnahbaren Gestus des Kämpfers zelebriert.
Aber auch ansonsten ist neben einer geschliffenen Form, Arbeitsstunden bemaßstabtem Fleiß und technokratischer Abgeklärtheit wenig sichtbar, was auf eine über die Person hinausreichende Quelle hindeuten könnte.
Ist er am Ende tatsächlich ein tragischer Gefangener der mittlerweile pathologischen Moderne? Ein Getriebener der Prozesse und Strukturen, die ihn umgeben? Unfähig zum integralen Befreiungsschlag, um so tatsächlich selber zu gestalten, anstatt durch die Umstände gestaltet zu werden. Mit einer Perspektive, die sich auf weite Horizonte, die Fähigkeit zur Trennung von behinderndem Ballast und Freude an der Aufgabe gründet. Um ein Ziel zu erreichen, dass einem transzendenten Selbstverständnis heraus entwächst.
Ein endgültiges Votum kann und werde ich hier nicht abgeben. Es bleibt mir nur, die Augen und das Herz offenzuhalten, um die Schatten im Spiegel vor mir als meine eigenen zu entlarven.
In diesem Sinne bin ich guter Dinge und leiste achtsam meinen Dienst.