ROM 03|21

De motu

Orbikon unterwegs mit Wein-Amphoren nach Gaza auf einer römischen Straße 1 (Foto: The Israel Museum; alle Rechte vorbehalten)

Der erste Advent, heißt es, ist in den Westkirchen seit Kurzem der Anfang des Kirchenjahres. Der Renitenz Humberts und Michaels haben wir es zu verdanken, dass das in der orthodoxen Tradition anders gesehen wird, aber sei’s drum… Auf jeden Fall erfüllte sich die wunderbare Prophezeihung und an diesem denkwürdigen XXVIII. NOVEMBRIS (für die Transalpinii: ᚢᚹ Windmond) stand ein begeisterter Reisender auf dem Boden der antiken Tatsachen. Die anderen Menschen in der Herberge waren ebenfalls schon bei Sonnenaufgang aufgestanden, gemeinsam saß man in der Küche und nahm je nach Geschmack und Wellenschlag das colazione ein. Danach wurde der Sack mit Wegzehrung bestückt und umgehängt. Es galt, einen vorbestellten Fahruntersatz abzuholen. Die Inspiration vom vor-vorherigen Jahr wirkte in ihrer starken Überzeugungskraft wohl noch deutlich nach.

Mit einem veritablen Drahtesel in äußere wie auch innere Bewegung versetzt, zog es mich wie nicht anders zu erwarten Richtung Petersplatz, um dem mittäglichen Angelusgebet von Papa Francesco beiwohnen zu können.

Eine ordentliche Kulisse für ein ordentliches Rad. Ein MTB mit guter Federgabel für römisches Pflaster und Schutzblechen für das derzeitige Wetter (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Auf Grund der lagebedingten Sonderregeln ersparte ich mir das stundenlange Anstehen an der Checkpoints und stellte mich einfach an das westliche, abgesperrte Ende der Via della Conciliazione, jeden breiten Prachtstraße, welche Hadrians Monster-Grabmal mit dem katholischen Schmuckstück verbindet. Pünktlich begann die Liturgie und endete wie üblich mit einem „Buona domenica e buon pranzo!“ (dt. Einen schönen Sonntag und guten Appetit!)

Okay, es ist nicht so voll wie sonst und ich stehe weiter weg, dafür aber ganz vorne an der Absperrrung. (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
Mäusekino auf vatikanisch: Auf dem Bildschirm ist er zu sehen, der erste Franziskus (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Nach Beendigung des spirituellen Programmanteiles dieses Sonntages galt es, sich mutig mit dem Rad in den Straßenverkehr der italienischen Hauptstadt zu begeben. Keine Ausflüchte mehr, keine vorgeschobenen Argumente konnten die Feuertaufe verhindern. Als ich vor zwei Jahren mit dem Rad nach Süden unterwegs war, das muss ich jetzt ehrlicherweise einräumen, bin ich überwiegend auf abseitigen Straßen und separaten Radwegen gefahren. Also quasi in der fast folgenlosen Sandbox zum Üben. Jetzt wartete der original südländische traffico stradale auf mich.

Erster Eindruck: Anstatt sich bräsig und bequem auf Vorgaben (Schilder, Regeln und Anzeigen) zu verlassen, muss man vor allem wach und bei der Sache sein und bleiben. Achtsamkeit ist das Schlagwort der Stunde. Ein unablässiger Austausch von Blickkontakten, Licht- und Hup-Signalen gewährleistet ein harmonisches Miteinander. Das Ganze geriert sich mehr als Fluss, denn als Abhandlung, es ähnelt mehr einem Tanz als einem Verwaltungsakt. Geistespausen sind nicht vorgesehen und sollten, so man sein Leben liebt und wert legt auf die bleibende Unversehrtheit des eigenen, fahrbaren Untersatzes, tunlichst vermieden werden.

Zweiter Eindruck: Es gibt einen Unterschied zwischen Recht haben und es richtig machen. Anstatt wie der germanische Automobilist sich selbstsicher auf irgendetwas zu berufen und es im Zweifel auch empört einzufordern, wird hier vor allem gewährt. Nicht lange, nicht generös, sondern kurzfristig, selbstverständlich und kollegial und eben auch fast immer. Nach dem Motto: „Wir sitzen ja alle im gleichen Boot, ähm, in unseren geliebten Blechkisten, haben es alle eilig und wollen alle heil ankommen. Also lasst uns Verkehr gestalten!“

So langsam komme ich meinen Widerständen gegenüber bestimmten Aspekten der deutschen Mentalität auf die Schliche. Während im Lande von Annalena, Christian und Olaf (wahlweise Jens, Karl und Lothar) vorauseilender Gehorsam, eilfertige Vorbildhaftigkeit und exponierende Bloßstellung einen gewissen Stellenwert als Zugehörigkeitsmerkmale genießen, ist anderenorts das Spekturm des Miteinanders bestimmt von ungeduldiger Duldsamkeit, nervöser Nachsicht und andächtiger Wachheit. Das ist bestimmt nicht jedermanns Sache, ich jedoch finde diesen Begegnungsmodus sexy. Hat soetwas Lebendiges, gleichzeitig ist es von Vertrautheit durchzogen, ohne dabei bevormundend oder übergriffig zu sein. Nichts läge dem Römer oder der Römerin ferner, als Perfektion einzuklagen. Stattdessen wird aus Möglichkeiten Gegenseitigkeit gewebt. Vor nichts hingegen fürchtet sich der bundesdeutsche Weltbürger mehr als vor der Welt außerhalb seiner selbstgesteckten Toleranzgrenzen. Er will Maßstäbe setzen, für alle, immer: „Schau mal, Mama, ich habe alles richtig gemacht, genau wie Du es gesagt hast! Jetzt kann auch ich lieb gehabt werden.“

Das erinnert mich stark an ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit der Ordnungsnummer 136, „Der Eisenhans“. Ein Volk wie ein Junge, der sich nicht traut, der Mutter den Schlüssel unter dem Kopfkissen zu klauen, um den Wilden Mann zu befreien. Stattdessen wird die Prinzipentreue unsentimental, dünkelhaft und infantil verteidigt. Ein lieber Freund von mir würde diese seelische Verfasstheit vermutlich im autoritär-vormodernen Wertekanon – blau – verorten. Wer weiß, wer weiß…

Gefangen ist der Wilde Mann. Wir der Junge ihn befreien? (Illustration: Anton Robert Leinweber, 1893, gemeinfrei)

Dritter Eindruck: Auch der gemeine Südländer ( lat. homo meridionalis ordinarius) kocht nur mit Wasser. Meint: Es passieren Unfälle (die Achtsamkeit erfährt also eine Diskontinuität), man schreit sich bisweilen ungestüm an (emotionale Aufladungen bekommen ad hoc Raum, sich zu entladen, anstatt anzusammeln bis zum großem Bumms) und das Stehen im Stau ist allein auf Grund der Verkehrteilnehmermenge (DAS liebe ich z. B. an der deutschen Sprache, die unglaublichen Komposita) genauso unumgänglich wie 1000 Kilometer weiter nördlich. Womit wir zu ganz anderen Fragen kommen könnten. Das will ich aber auf Grund des schon aufgefahrenen Seitenhieb-Arsenales weiter oben den Automobilisten unter den Lesern jedoch nicht auch noch zumuten.

Der Tag endete harmonisch, rund und ergreifend: Ich nahm einen der Radschnellwege Richtung Nordwesten aus der Stadt hinaus, quasi den Tiber-Radwanderweg. Zwar ist er als solcher nicht bekannt und auch nicht beschildert, jedoch zweifelfrei ersichtlich. Anfangs liegt er ufernah am tiefergelegenen Bett des Hauptstadtflusses, später befreit er sich aus diesem Korsett und die Landschaft öffnet sich und gewährt weite Horizonte (jaaaaa, die!).

Noch weiter Richtung Zentrum ist die Mauer links statt wie hier nur vier bestimmt neun bis 15 Meter hoch. Man begegnet vielen, anderen Radfahrern, Spaziergängern und Joggern (m/w/d) (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
Allenthalben Märkte, Buden und Menschen. Geht eben auch. (Foto: Sarah A. Besic, CC BY_SA 4.0)
…und es dauert gar nicht lange, bis man so weit aus der Stadt hinausgeradelt ist, dass links und rechts vom Weg Schafe weiden (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
Bei der Rückfahrt auf gleicher Strecke bot sich mir zum Tages(licht)ende dieses Farbenspiel am Himmel – Feuer über Rom (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Krönender Abschluss dieser Radtour war auf Höhe des Foro Italico ein nicht endender Menschenauflauf, größtenteils mit weinroten Kleidungsstücken wie Schals, Hoodies oder Basecaps angetan. Der AS Roma spielte an diesem Abend gegen den FC Turin und gewann 1:0. Ich verfolgte das spannende Spiel in einer Straßenverkaufspizzeria auf 65″-Bildschirm über Sky bei knusprigen Stücken funghi und salmone bianche.

Pilgernde Fussballfreunde vor dem Foro Italico zum Spiel AS Roma gg. FC Torino (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
…und entsprechender Verkehr (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)
  1. McCormick, Michael. „Radiocarbon Dating the End of Urban Services in a Late Roman Town“. Proceedings of the National Academy of Sciences 116, Nr. 17 (23. April 2019): 8096–98