Ex oblivione
Zweiter Tag. Alle konsumptiven Gelüste scheinen bereits befriedigt. Bereits am ersten Abend. Mit dem Kauf einer Arbeitshose nordamerikanischer Machart aus Denim, mit Baumwolle aus Brasilien, produziert in Italien von einer französischen Firma. Way cool! Wenn alles so einfach wäre. Hat eigentlich einmal jemand gegengerechnet, wieviel die Umweltschutz-Wiedergutmachungs-Zertifikate kosten würden, die man in diesem Zusammenhang erwerben müsste, um den diesbezüglichen, ökologischen Fußabdruck real zu kompensieren? Nein, wahrscheinlich nicht. Oder doch, ja, auf jeden Fall. Aber die Frage bliebe vermutlich unbeantwortet im Raum hängen, ob diese virtuellen Bereinigungs-Bescheinigungen in dieser manifesten Welt auch tatsächlich irgendetwas Positives und Konstruktives bewirkten (außer freilich, irgendjemandem die ohnehin schon vollen Taschen auf obszöne Art und Weise weiter zu füllen…). In diesem Zusammenhang gab es Zeiten, wo zumindest der Transport von Waren um ein Beträchtliches umweltverträglicher war als dies heute der Fall ist.
Womit wir bei einer weiteren Frage wären, die unlängst ein guter Freund von mir aufwarf: Ob unser sogenannter Fortschritt der vergangenen einhundert, zweihundert, dreihundert Jahre tatsächlich als ein Gewinn zu verbuchen sein kann? Und wenn ja, für wen? Und damit wir uns einig sind: Es geht hier nicht um die überaus weitreichende Segnung der Verbesserung der fotografischen Fähigkeiten und Möglichkeiten des iPhone 13 gegenüber seinem Vorgänger mit der Nummer 12 </irony off>.
Doch verlassen wir zunächst dieses gesellschaftspolitische Minenfeld und begeben wir uns auf ein Gelände ohne heimtückische Sprengfallen. Vor nicht allzu langer Zeit, die Sonnestrahlen waren noch imstande, einen Tag am Nordstrand des Cospudener Sees zu gewährleisten, wurde ich durch einen knappen, schriftlichen Hinweis darauf aufmerksam, dass ich ein in der Nähe meines alljährlichen Forschungs- und Erkundungsortes Rom liegendes, offenbar sehr bedeutendes, archäologisches Ausgrabungs-Schmuckstück in dessen Unkenntnis wieder und wieder buchstäblich rechts liegen ließ. Dabei gehörte zu vielen Besuchen in der Ewigen Stadt immer auch ein Ausflug nach Ostia, der Kleinstadt am Tiber-Delta zum Mittelmeer. Dazu nehme man aus der Innenstadt heraus die Metro-Linie B Richtung Laurentina, steige mit immer noch dem gleichen, einen Euro und fünfzig Cent kostenden 100-Minuten-ÖPNV-Ticket (sic!) an der Haltestelle Sankt Paul vor den Mauern (it. S. Paolo fuori le mura, Ansage „…prossima fermata San Paolo, uscita lato destro…“) in den Zug Richtung Lido2.
Bisher bin ich immer bis ans Meeresufer oder gar die Endhaltestelle gefahren. Dabei nahm ich an, dass die heute existierende Besiedlung sich mehr oder weniger auf den Fundamenten des historischen Weilers befände. Doch wie lag ich damit falsch! Zwei wesentliche Ereignisse verhinderten diesen mutmaßlichen Gang der Geschichte: Erstens beeinflusste die signifikante Verschiebung der Küsteninie zwischen Tyrrenischem Meer, also des Teiles des Mittelmeeres, der im Westen an die Apenninhalbinsel angrenzt und eben der östlich davon liegenden Landmasse im Verlauf der letzten 2000 Jahre maßgeblich die Lage der alten Stadt mit ihrem Hafen. Heute liegt das Gelände ca. 3 km vom Meer entfernt. Und zweitens bestimmte die ebenfalls nicht folgenlose Veränderung des Tiber-Flussbettes nach der großen Flut im Jahr 1557 derern Verfall in die Bedeutungslosigkeit.
So kam es, wir erinnern uns an anicca (skrt. अिनत्य, anitya), der im Buddhismus gelehrten, allgegenwärtigen Unbeständigkeit und Vergänglichkeit, dass ein einstmals strategisch wichtiger Militärstützpunkt und der für die Machtzentrum des Römischen Reiches zentrale See-Umschlagplatz aus der damals bekannten Welt dem gnädigen, aber eben auch unausweichlichen Vergessen anheim fiel. Zwar konnte Richard I., König von England, genannt Löwenherz, bei seiner bewaffneten Wallfahrt in das Heilige Land im Jahre 1190 noch den eindrucksvollen Leuchtturm aus der Zeit von Kaiser Claudius, übrigens eine exakte Kopie des vormalig alexandrinischen Weltwunders von seinem Schiff ausmachen, doch zu diesem Zeitpunkt verblasste die Erinnerung schon zusehens.
Zum Beginnd der Neuzeit waren die Ruinen von Hafen und Stadt durchaus noch erkennbar, jedoch dem Verfall und der Überdeckung durch darüberliegende Erdschichten unerbittlich preisgegeben. Erst im 19. Jahrhundert erkannten interessierte Wissenschaftler die Bedeutung der wiederentdeckten Bauwerke und im Verlauf der folgenden 200 Jahre wurde bis heute ein Großteil der Stadt wieder freigelegt, kartografiert, systematisch erschlossen und letztlich für den Publikumsverkehr freigegeben.
Und das, was man auf der obenstehenden Grafik so schön illustriert findet, ist weitestgehend, natürlich in einem wörtlich ’ruinösen‘ Zustand 😉 heutigentags zu besichtigen. Anders als beim Forum Romanum in Roms Stadtzentrum, wo die optische Fantasie des Betrachters gefordert ist, stehen in Ostia Antica nach eigener, grober Schätzung wenigsten 80% der Grundrisse mit ihrem Erdgeschoss-Mauerwerk. Bis hin zu überwiegend erhaltenen Bauwerken wie dem Theater, dessen Zuschauertribüne an ihrem angestammten Ort steht, als wenn erst gestern dort das kulturverliebte Volk seine Freude an kurzweiligen Darbietungen gehabt hätte.
Bevor ich hier amateurhaft anfange, ins Detail zu gehen, darf ich auf zwei beachtenswerte Webseiten verweisen: Zum Einen auf die offizielle www.ostiaantica.beniculturali.it, und zum Zweiten auf eine privat geführte www.ostia-antica.org. Wer gleich in die Stadtstruktur mit ihrem Bauwerken einsteigen will, ist hier hervorragend beraten.
Man betritt das Freiland-Museum über die ehemalige Einfallstraße von Rom, die Via Ostiensis. Bevor man die die Überreste des Stadttores der Porta Romana schreiten kann, gibt es eine der zwei früheren Nekropolen zu bestaunen. Links und rechts der Straße wurden recht aufwändige Gebäude errichtet, die als letzte Ruhestätte für die Urnen mit der Asche verstorbenen Bürger dienten. Und wieder sind wir ganz unvermittelt bei der Vergänglichkeit.
Um nicht gänzlich den Eindruck zu hinterlassen, ich hätte eine morbide Lust, dem geneigten Leser oder der geneigten Leserin ihre Endlichkeit unter die Nase reiben zu wollen, sei folgendes erwähnt: Ich flanierte die nächsten zweieinhalb Stunden über das wirklich weitläufige Gelände, bestaunte ehemalige Wohnhäuser, Läden für Waren aller Couleur, Werkstätten, eine riesige Bäckerei, Wäschereien, Badehäuser (öffentliche, der reichen Oberschicht vorbehaltene wie auch solche, die bestimmten Zünften gehörten), die Kaserne der Stadt- und Feuerwache, das Theater, Tempelanlagen, Aquädukte, Zisternen und Brunnen, sowie Wasserspeicher und vieles mehr.
Bestaunenswert waren dabei besonders die teilweise sehr gut erhaltenen Bodenmosaike in den, heute würde man sagen recreational areas:
Hier dann die Zuschauertribüne vom Theater:
Irgendwo am südlichen Bereich des Geländes setze ich mich dann auf einem Mauerrest hernieder, genoss einfach nur das Panorama:
…und bekam Besuch von einer äußerst verschmusten Katzenperson:
Und während ich da so saß, wehte an mir eine Ahnung vorbei, dass mir dieser Ort in seiner ursprünglichen Beschaffenheit wohl nicht fremd wäre. Insbesondere die Kasernenanlagen der Stadtwache lösten bei mir nicht nur ein wissendes Lächeln aus und mein Geist tauchte ein in Erinnerungsfragmente vergangener Zeiten. Noch ein Zuhause…
Womit ich wieder am Anfang dieses Tagesausfuges angekommen wäre. Ist das, was wir hier so hemmungslos in der sogenannten zivilisierten Welt zelebrieren, tatsächlich ein Zugewinn gegenüber vergangenen Zeiten, oder lügen wir uns all das Glitzernde und Schöne (ja, ich bin von Diesem und Jenem auch begeistert!) nur deshalb in die Taschen, weil wir den Vergleich mir der rückständig apostrophierten Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennen? Mal im Ernst: Wir wissen doch schon nicht, wie das Leben auf diesem Planeten anderenorts, knapp zwei Flugstunden vom heimatlichen Ofen entfernt funktioniert. Mehr noch, wir (oder besser: unsere Medien) maßen sich, gleichsam den sog. „Lehnstuhl-Gelehrten“ des vergangenen Jahrhunderts an, Urteile und Bewertungen fällen zu können, wie Leben abzulaufen hat, was richtig und was falsch ist und welches Verhalten als beispielaft, welches andere aber als Blaupause für die ewige Verdammnis herzuhalten habe. Natürlich wird (und wurde es vermutlich schon immer) dafür ein wohlfeiles Spektrum an nützlichen Begründungen hinzugezogen, aber letztlich sollten alle diese Beseitigungsversuche einer inneren Reibung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur um den unbeholfenen aber eifrigen Erhalt der eigenen, kleinen Welt geht und ging.
Selbstgerechtigkeit, Verantwortungsabgabe und ein blindes Weiter-So sind aber eher untrügliche Anzeichen für Enge, Ohnmacht und Rigidität als dass sie Früchte sein könnten für den stimmigen Einsatz von Verstand und Herz.
Aber da ich kurz zuvor gesagt habe, unsere Vorfahren sollten uns zum Muster dienen, so gelte als erste Ausnahme, dass man nicht ihre Fehler nachahmen darf.
Marcus Tullius Cicero, De Oficiis (Vom pflichtgemäßen Handeln) I, 121
- Imp(erator) C[aes(ar) divi M(arci) Antonini fil(ius) divi] / [Commodi frater divi Anto]nin[i Pii] / [n]ep[os divi Hadr]ian[i pro]nepos divi / Traiani a[bnepos d]ivi Ner[vae adnepos] / L(ucius) Septimius Sev[erus Pius Pe]rtinax Au[g(ustus)] / [Arab(icus) Adiab(enicus) Parth(icus) max(imus) pontifex max(imus)] / [tri]bun[i]c(ia) potest(ate) II[II i]mp(erator) [VI]II co(n)s(ul) II et / [Marc]us Aurelius Antoninus Caesar / dedicaverunt
- Ich habe mal nachgeschaut: Die ca. 26 km im Verbundnetz der ATAC, dem regionalen ÖPNV-Anbieter kostet damit ungefähr ein Zehntel von der vergleichbaren Strecke Leipzig Hbf – Gröbers mit der S3 😕
- basierend auf: Bersani, P.; Moretti, D. Historical evolution of the coastline near the Tiber River mouth. L’acqua, 2008, 5. Jg., S. 77-88.