De auctoritate
Es gibt da so ein Sprichtwort, welches sich, frei wiedergegeben, darauf bezieht, dass ein Mensch in jungen Jahren das ausgleichendere Moment der communitas mehr in den Vordergrund stellte, während in der zweiten Hälfte des Lebens die politische Ausrichtung gegenüber der Gesellschaft eher geprägt wäre von der Bevorratung und dem Erhalt bürgerlicher Segnungen. Ein angenommener Übergang kämperischen Gestaltens zur rechtfertigenden Bewahrung quasi. Gerne wird diese Vermutung durch Bezugnahme zu existierenden politischen Parteien illustriert. Die Erfahrung vergangenen Austausches darüber ließ mich zu dem Schluss kommen, dass ich recht alleine dastehe mit der Ansicht, dass einerseits weder die eindimensional-polarisierende, für die teiweise hochkomplexen Problemfelder unserer Zeit völlig überholte und damit gänzlich ungeeignete parteipolitische Verortung angemessen sei. Andererseits wirkte dieses grobschlächtige Zuordnen in eine von zwei möglichen Schubladen auf mich nicht nur bemüht, sondern schlicht weg falsch.
Jetzt liegt es mir fern, einen Disput loszubrechen, der die Bedeutung des Wortes “konservativ“ zum Gegenstand habe. Durchaus erwähnen möchte ich jedoch, welchen Sinngehalt ich diesem Eigenschaftswort beimesse. Das lateinische Wort cōnservāre lässt sich übersetzen mit bewahren, erhalten, aber auch stärker retten. Ausdrücklich nicht schreibe ich ihm den Tenor von ’am Herkömmlichen festhaltend‘, ’an überkommenen gesellschaftlichen Zuständen hängend‘ und ’den Fortschritt hemmend‘ 1 zu.
’Bewahren‘ ist ein schönes Wort. Es beinhaltet Engagement, ohne frenetisch zu sein, es offenbart Besonnenheit, ohne der Behäbigkeit den Mund zu reden, es deutet Respekt an, ohne den Verdacht der Liebedienerei aufkommen zu lassen. Konservativ zu sein heißt für mich, das Vorhandene zu achten und es nicht ohne Not durch etwas nur um seiner Neuheit Willen zu ersetzen. Es eröffnet aber gleichenfalls die offenherzige Bereitschaft, dem Besseren den Raum zu überlassen. Eine experimentelle Gratwanderung.
Um es mit einem aktuellen Besipiel zu bebildern: Umweltschutz ist für mich zutiefst konservativ. Wie einfältig müsste der Mensch sein, anzunehmen, dass ein lebendiges Gleichgewicht aus Organismen und Lebenswelt, welches sich in Millionen von Jahren konstituiert hat, durch die vielfachen und meist unbedachten Eingriffe des Menschen nicht unter ernormen Anassungsdruck geriete. Wieviel ignoranter ist es im Zuge dessen darum auch, diese ungefragte Einmischung nicht durch Bewahren zu bremsen, wiedergutzumachen und bestenfalls umzukehren. Der hier drohenden Kritik von Biologen zuvorzukommen: Es geht genauso wenig um den Erhalt eines evolutionsgeschichtlichen Schnappschusses (das wäre wieder die deutsche Variante: Annahme einer erstrebenswerten, statischen Perfektion).
Sähe man den sogenannten Fortschritt in einem wirklichen Millieu des Bewahrens, so ließe sich schnell die Spreu vom Weizen trennen. Unseligen Verstetigungen von schädlichen Zuständen, wie die abstruse Rollenzuweisung der Frau als nachrangiges Lebewesen wäre dementsprechend gewissermaßen einer Veränderungspflicht unterworfen, die im Zuge dessen gerne, aber missverständlich angestrebte Gleichschaltung jedoch wäre ebenso unstatthaft. Die Digitalisierung pädagogischer Bemühungen müsste dann ebenso differenziert betrachtet werden: Ein medial-methodischer Zugewinn wäre zu unterstützen, ein apologetisches Ersetzen rennomierter Werkzeuge und Vorgehensweisen zu unterbinden.
Warum nun dieser Ausflug in die Wesenshaftigkeit eines solch unbedeutend scheinenden Wortes?
Die Vollstreckung von Maßnahmen unter dem Deckmantel der dahinter stehenden Gedankengebäude, umkämpft und nur allzu gerne missbraucht für Partikularinteressen, obliegt in der Regel denjenigen, die Macht haben; also von Menschen oder Gruppen, welche sich qua eigenem Willen ermächtigt sehen und Geltung verschafft haben bzw. von wem auch immer sich beauftragt fühlen, Autorität auzusüben, die Zeichen der Zeit zu erkennen in der Lage sind, offen oder verdeckt Initiative ergreifen, dabei Entschlossenheit und Beharrlichkeit an den Tag legen und stetig mit einer gewissen Hartnäckigkeit Einfluss ausüben und darauf basierend Anerkennung erlangen und in Folge dessen bestenfalls Ansehen genießen. Das funktioniert natürlich grundsätzlich im Guten wie auch im Schlechten.
Mein 29. November nun war bestimmt von dem Besuch eines Ortes, der eindrucksvoll Zeugnis ablegt einer solchen sieghaften Konstellation, konzentriert auf eine Person, zu der ich ein besonderes Verhältnis pflege, welches mutmaßlich auf meiner eigenen, karmischen Geschichte beruht.
Publius Aelius Hadrianus, genannt Imperator Caesar Traianus Hadrianus Augustus, geboren am XXIV. mensis Ianuarius, ab urbe condita DCCCXXIX (829, nach heutiger Zeitrechnung 76 n. Chr.) in der römischen Provinz Hispania Ulterior in der Stadt Italica, ca. 10 km südlich des heutigen Sevilla, gestorben im Alter von 62 Jahren am Golf von Neapel, nachdem er einundzwanzig Jahre als vierzehnter Kaiser des Römischen Reiches herrschte.
Auch hier erspare ich mir ein umfassende Darlegung seiner Vita. Das ist an anderer Stelle viel kompetenter geschehen. Wichtige, wissenswerte Eckpunkte seines ehrgeizigen Wirkens seien trotzdem genannt: Er beherrschte sowohl das Griechische wie auch Latein und war als guter Redner bekannt. Er wurde frühzeitig von seinem kaiserlichen Vorgänger Trajan gefördert (ob er von ihm tatsächlich kurz vor dessen Tod auch adoptiert wurde, wurde schon – folgenlos! – in der Antike bestritten) und durchlief mustergültig die Laufbahn zum späteren Herrscher. Zunächst wurde er als Gerichtsaufsicht berufen, nahm drei Militärtribunate, eines in Budapest, eines auf der Balkanhalbinsel und eines im heutigen Mainz wahr, wurde erst Questor im Römischen Senat, später Konsul, bekleidete in zahlreichen Kriegen, beispielsweise in Dakien und gegen die Parther maßgebliche Stabs- und Befehlhaber-Verwendungen, bevor er im Hochsommer des Jahres 117 unmittelbar das Amt von seinem verstorbenen Vorgänger übernahm. Er war kinderlos verheiratet mit der Großnichte Trajans und lebte offen seine homoerotischen Neigungen aus.
Wesen seiner Regentschaft war ein deutliche Zurückhaltung hinsichtlich kriegerischer Handlungen. Im Gegenteil konsolidierte er die Reichsgrenzen durch Rückgabe eroberter Gebiete, sicherte so inneren Frieden und Stabilität. Gerne bezog er sich auf die Tradition erfolgreicher Kaiser der Vergangenheit und sicherte sich so insgesamt das Wohlwollen des Volkes, die Zustimmung des Senates und gewann damit schnell an Ansehen. Er förderte die Rechtsprechung und gleichzeitig die städtische Selbstverwaltung wie auch die kaiserliche Zentralverwaltung. Er erkannte die Bedeutung kultureller Errungenschaften, förderte schon aus eigenem Interesse die Künste und die Architektur und hinterließ beachtenswerte Bauwerke, die auch fast 2000 Jahre nach ihrer Errichtung noch zu bestaunen sind: Darunter den Hadrianswall, die Grenzbefestigung auf der britischen Insel (übrigens Vorlage für ’die große Mauer im Norden‘ bei Games of Thrones), weiters das ihm zu Ehren erbaute Mausoleum in Rom, heute bekannt unter dem Namen ’Engelsburg‘, das Pantheon, ein bautechnisches Meisterwerk seiner Zeit mit einer wahnwitzig großen, schier unvergänglichen Betonkuppel, dann die Bibliothek in Athen und, ja, und seinen eigenen Wohn- und Herrschaftssitz, die Villa Adriana, ca. 25 km nordöstlich von Rom bei Tivoli.
Mit dem Mountainbike unter dem Hintern begab ich mich an diesem Tage auf der vielbefahrenen Via Tiburtina die radfahrtechnisch unattraktiven zwei Dutzend Kilometer hinaus aus der Stadt. Bei stetigem Anstieg, zweitweisen Schauern und straffem Gegenwind wahrlich kein Zuckerschlecken!
Um so mehr fühlte ich mich belohnt, als ich an dem geöffneten und fast menschenleeren Freilichtmuseum ankam. Also, den Begriff ’Wohnsitz‘ für dieses Gebäude- und Landschaftsensemble zu benutzen, ist wohl die schamloseste Untertreibung des Jahres. Das gestaltete Gelände umfasst 125 Hektar und ist damit knapp doppelt so groß wie das vom Innenstadt-Ring umschlossene Zentrum meiner sächsischen Heimatstadt und blieb damit über den Tod Hadrians hinaus die größte und aufwändigste Residenz aller römischen Kaiser – ever!
Die eher eine kleine Palaststadt zu nennende “Villa“ bettet sich ein in aufwändige Gartenanlagen, die allenthalben als Vorbild dienten für eigentlich alle Barock-Gärten viele Jahrhunderte später und fanden ihre Inspirationen im gesamten Mittelmeerraum. Bis zu 40.000 Menschen waren an der Verwirklichung dieses architektonischen Leckerbissens beteiligt. Gelegen am Südwesthang des heutigen Naturreservates Monte Catillo mit bis zu 500 Meter hohen Mittelgebirgshügeln hat man einen sagenhaften Blick auf das Tyrrhenische Meer und die Heilige Stadt.
Symbolische Nachempfindungen fremder Landschaften, unterschiedlichste Tempelanlagen, frivole Rückzugsräume in geradezu verschwenderischen Gebäudeteilen, repräsentative Säle mit Säulengängen, Theater, üppig bepflanzte Atrien mit Wasserspielen und Brunnenanlagen, weitläufige Wasserbassins zum Flanieren, markante Aussichtspunkte und lauschige Olivenhaine sind heute noch trotz des Verfalles gut auszumachen und laden ein zum Verweilen und Entdecken. Eben das tat ich dann auch, gute zweieinhalb Stunden lang. Man könnte aber auch zwei Tage dort verbringen. Das kühle und feuchte Wetter ließ mich aber schließlich wieder von dannen ziehen.
Der Rückweg war denn auch viel einfacher zu bewältigen, bergab und mit Rückenwind. Die Verkehrssituation allerdings blieb im Feierabendverkehr trotzdem herausfordernd. In meiner Bleibe angekommen, bereitete ich mir erneut Spaghetti mit einer gehaltvollen Sugo und beschloss den Abend mit Lesen, Quatschen und Serie-Schauen.
Und was hat die Besichtigungstour nun mit dem recht ausführlich erläuterten Adjektiv und seinem exekutiven Substantiv zu tun?
Schon früher beschäftigte ich mich mit der Ambivalenz von Macht im Zusammenhang von überragenden Werken der Kunst und Architektur. So etwas wie die Villa Adriana wäre sicherlich nie entstanden im Rahmen rational-vernünftiger, pragmatischer Erwägungen. Die offenbar notwendigen Zutaten Ehrgeiz, Geltungsdrang und Willensdurchsetzung spielen ein wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle bei solchen, die Zeiten überdauernden Hinterlassenschaften, die als ästhetische Statements noch Jahrhunderte später das Auge, das Gemüt und vor allem das Herz des geneigten Betrachters (m/w/d) erfreuen, beglücken und inspirieren können.
Was wäre das heutige Rom ohne all die größenwahnsinnigen Kleriker und narzisstischen, weltlichen Herrscher – und ihre ausufernden, wahnwitzigen Überdauerungsversuche? Ein guter Ausgangspunkt für eine Kontemplation über die auctoritas im Titel dieses Beitrages.
p. s.: Vor gar nicht allzu langer Zeit wurde mir, einigen ist es bekannt, auf einer Radtour durch das wundervolle Stadt-Konglomerat Bitterfeld-Wolfen [/irony off] mein Portemonnaie geklaut. Inzwischen habe ich alle Dokumente neu beschafft in einem gleichen, neuen Exemplar der Leder-Geldbörse verstaut. Als einziges fehlt zur Vervollständigung, und es war auch dies das Einzige, dem ich wirklich hinterhertrauerte, ein Inhaltsbestandteil, der unmittelbar mit diesem Beitrag in Zusammenhang steht und von mir als Erinnerungsstück immer mitgeführt wurde: Eine originale Silbersesterze aus der Zeit Kaiser Hadrians mit seinem Portrait recto und der Fortuna mit Füllhorn verso. Wer die Textarbeit meiner diesjährigen Reise als befruchtend empfindet und mir eine große Freude bereiten will (und gerade ein paar Penunzen für solch eine Großzügigkeit übrig hat) kann mir hiermit Ersatz beschaffen. Die Firma dankt im Voraus.
p.p.s.: Das ging ja wirklich schnell! Ich bin entzückt und begeistert. Eine sehr liebe Seele hat diesen tollkühnen Vorschlag zum Anlass genommen, ihn unverzüglich in die Wirklichkeit zu befördern. Ich danke vielmals und bin großer Freude darüber. 😘😘😘
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