Filmkritik zur Sneak-Preview eines politisch hochaktuellen Historiendramas
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Gerade eben haben einschneidende und weltweit weitgehend im Gleichtakt verhängte Maßnahmen zur Eindämmung einer Gefahrenlage die Menschen allerorten hochgeschreckt. Die einen, weil solcherart Freiheitseinschränkungen nicht einmal mehr entfernt zum gedanklichen Repertoire einer anzunehmenden Lebensrealität gehören. Die anderen, weil ihre ohnehin schon begrenzten Freiheiten unter dem Deckmantel der Notwendigkeit noch schamloser beschnitten werden konnten.
Berechtigt in Art und Umfang oder nicht, plakativ wurde einem jedem und einer jeder die dünne Firnis von „Normalität“ vor Augen geführt, die Abhängigkeit von übergeordneten Autoritäten, die Vergänglichkeit von als sicher geglaubten Errungenschaften.
Kaum vorstellbar für einen heutigen Menschen in einem der wohlhabenden, der Moderne zuzurechnenden Länder der Welt, dass nur etwas mehr als ein Jahrhundert zuvor ein solches Ausgeliefertsein gegenüber anderen für viele Millionen Menschen allein auf dem nordamerikanischen Kontinent zur unverhandelbaren Lebensgrundlage gehörte.
Die Gegenwärtigkeit der Thematik
Die Aktualität dieser damaligen „Normalität“ im Hinblick auf deren konkrete Spätfolgen sowie in Bezug auf allgemein die Menschenrechte wird dem geneigten Zuschauer bzw. der geneigten Zuschauerin schmerzhaft vor Augen geführt.
Derzeit werden die Vereinigten Staaten von Amerika von einer Welle des Protestes gegen soziale Benachteiligungen und Rassismus und Solidaritätsbekundungen für die diesbezüglich Betroffenen erfasst. Die unterschwellige oder auch offen zu Schau gestellte Abneigung gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen auf der einen Seite trifft dabei auf eine jahrzehntelang gedeckelte Wut über fortwährende Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung auf der anderen. Vorbehalte auf beiden Seiten finden sich bestätigt und münden nicht selten in die hemmungslose Ausübung von Gewalt.
Eine schmerzvolle Geschichte
Die Wurzeln dieser heutigen Ereignisse liegen dabei schon hunderte von Jahren zurück: Nachdem der amerikanische Kontinent zum Beginn der Neuzeit (wieder)entdeckt wurde, schickten sich die damalig mächtigen Seefahrernationen an, den Reichtum ihres Mutterlandes zu mehren, indem einerseits bereits bestehende Wirtschaftprozesse durch Ausnutzung von Asymetrien verbilligt wurden, andererseits konnten völlig neue Märkte erschlossen werden, indem erstens Abhängigkeiten etabliert wurden und zweitens Resourcen-Ausbeutung in ganz neuem Maßstab zum Geschäftsmodell ermöglicht wurde.
Die Politik der Kolonialisierung empfahl sich dabei durchaus nicht als Neu-Schöpfung einer nach-mittelalterlichen Feudalordnung. Es war vielmehr die nahtlose, globale Verzahnung und damit einhergehend der bis dato ungekannte Umfang der Unterdrückung und Verwertung, der seinesgleichen suchte.
Annektion und Unterwerfung
In einem Teufelskreislauf aus Menschenhandel zum Zwecke der Sklaverei, also Bereitstellung von extrem kostengünstigen Arbeitskräften, der Besitznahme von Land als Grundlage des Abbaus von bisher nur schwer erreichbaren und damit knappen Rohstoffen, der Aneignung von bisher unberührten Naturflächen für die extensive Landwirtschaft, sowie die Nutzbarmachung der regional kostenlos verfügbaren Fauna zur allseitigen Verwertung erlebte die Industrie und der Handel einen beachtlichen Aufschwung. Zur Durchsetzung der nationalen Interessen installierten sich die beteiligen Nationen machtpolitisch derart, dass jederzeit die Wahrung der jeweiligen Interessen gewährt werden konnte.
Dies führte in den kolonisierten Gebieten überwiegend zu einer ganzheitlichen Terrorherrschaft gegenüber der angestammten Bevölkerung. Rechte wurden, wenn überhaupt, nur pro forma und eingeschränkt gewährt. Vorherrschend hingegen war eine allseitige Bevormundung der Ur-Bevölkerung, bezüglich des Glaubens, der Verfügungsgewalt über Eigentum bis hin zu Bewegungsfreiheit.
Am Ende des Verwertungsprozesses standen blühende Auslandsterretorien, deren wirtschaftlicher Aufschwung nach kontinuierlich mehr Arbeitskräften verlangte. Dieser Bedarf wurde weit überwiegend durch die Sklaverei gedeckt. Während als eine der diesbezüglich bis ins 19. Jahrhundert hinein erfolgreichsten Nationen Portugal genannt werden muss, waren es vor allem auch spanische, britische, französische und holländische Händler, die dieses Geschäftsmodell dominierten.
Die Kosten des wirtschaftlichen Erfolges
Der Raum des heutigen Nordamerika tat sich dabei als ein starker Nachfragemarkt hervor. Und obschon auf dem Wiener Kongress Anfang des 19. Jahrhunderts die Ächtung der Sklaverei in die Kongressakte aufgenommen wurde, hielt sich vor allem in den südlichen der Dreizehn Kolonien der nordamerikanischen Ostküste, die als erstes ihre Unabhängigkeit von den Mutterstaaten erklärten, die Ausbeutung menschlicher Arbeitskräfte hartnäckig.
Vor allem diejenigen Gebiete, welche der in Virginia entstandenen Plantagenökonomie anhingen, bedurften der kontinuierlichen Zuführung von vor allem aus Afrika stammenden „Menschenmateriales“, um ihre Warenproduktion aufrecht erhalten zu können. Dem wirtschaftlich erfolgreichen Beispiel folgend, dehnte sich die industrielle Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen immer weiter gen Westen und Süden aus und führte in Folge zu erzwungenen Massenwanderungen der versklavten Menschen.
Erst mit der militärischen Niederlage der südlichen Konföderierten Staaten im Sezessionskrieg Mitte des 19. Jahrhunderts wurde offiziell die Sklaverei abgeschafft. Faktisch jedoch fand in vielen Bundesstatten eine kaum weniger milde Form der Zwangsarbeit weiterhin statt, in Alabama bis 1928. Neben anderen Bevölkerungsgruppen, z. B. eingewanderten Chinesen, entstanden aus der Gruppe der ehemaligen Zwangsarbeiter gerade in den großen Städten isolierte Wohnviertel, sog. Ghettos, mit einer homogenen Bevölkerungsmehrheit.
Ein schweres Erbe
So ist bis zum heutigen Tage die Segregation zwischen den Nachfahren der ehemaligen Sklavenhalter, überwiegend Menschen heller Hautfarbe und den Nachfahren der Sklaven, Menschen überwiegend dunkler Hautfarbe, vorherrschend. Die Folgen dieser historisch bedingten Trennung konnten nachgerade nur marginal aufghoben werden – trotz entsprechender mehrstufiger Rassentrennungsgesetze Mitte des 20. Jahrhunderts.
Damit einhergehend verstetigte sich mehrheitlich die strukturelle Benachteiligung der Afroamerikaner im Hinblick auf Besitz, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe. Das Ergebnis dieser dramatischen und nicht einfach aufzulösenden Geschichte können wir gerade im Moment eindrucksvoll und mit Bestürzung in den Tagesnachrichten über die Unruhen in den USA verfolgen: Wut trifft auf Angst, Hoffnung wird von Zorn erstickt und die Schwierigkeit des Verständnisses füreinander erschwert eine friedliche Lösung.
Der Rahmen des Filmes
Diesem tragischen und realen Historienverlauf ist nun der eindrucksvolle und authentische Erzählstoff des Filmes entnommen. Den roten Faden bildet die darin eingewebte Biografie einer jungen Frau mit dem Geburtsnamen Araminta Ross1, von Freunden „Minty“ genannt. Geboren am Anfang des 19. Jahrhunderts verbrachte sie ihre gesamte Kindheit auf einer Farm in Maryland, einem der südlichen Bundesstaaten der noch jungen, unabhängigen Vereinigten Staaten. Geprägt durch die harte Arbeit auf dem Feld, beeinflusst durch einen aufflammenden, christlichen Glauben und bestärkt durch persönliche und tiefgreifende Erlebnisse, setzt der Film inhaltlich ein, als sie die Chance sieht, aus der Sklaverei zu entfliehen. Der Rest des Filmes ist belegte Geschichte, die sich kurz umreißen lässt als das Heldenepos einer unbeugsamen Fluchthelferin.
Wenn auch die Lebensgeschichte der Protagonistin, die sich später den Namen Harriet Tubman gibt, als zum Teil aktionhaltig dargestelltes Drama die Grundlage der Handlung bildet, so ist es doch viel mehr die bisher komplett ausgeklammerte persönliche, die psychologische Ebene, welche sich als Stärke des Werkes empfahl.
Gefühle und Wertfreiheit
Um es knapp zu beschreiben: Ich hätte die überwiegende Vorführung des zweistündigen Filmes nur heulen können. Lebensnah und identifikationsstark gelingt es dem recht unbekannten Drehbuchautoren-Duo Kasi Lemmons, welche auch Regie führt und Gregory Allen Howard, den Zuschauer tief eintauchen zu lassen in die bedrückende Atmospähre der damaligen Zeit.
Lobend zu erwähnen und die zentrale Stärke des Filmes überhaupt ist dabei, dass die gesellschaftlichen Gegebenheiten der damaligen Zeit wertfrei und damit sowohl ohne beschönigende aber auch ohne tadelnde Elemente inszeniert wurden. Die bisweilen festzustellende Tendenz in solcherart Filmen, unsere heutige Sicht auf ein historisches Geschehen anzuwenden, mündet nämlich regelmäßig in eine geschichtliche Ungenauigkeit, die dem heutigen Zuschauer ein Gefühl der unbegründeten Erhabenheit oder sogar Überlegenheit vermittelt.
Das Aushalten der Vergangenheit
Nein, der Film setzt das Publikum brachial der ehemaligen Realität aus, erzeugt damit nur schwer auflösbare, innere Widersprüche und emotionalisiert entsprechend erfrischend ein Thema, welches normalerweise in seiner Aufarbeitung vor allem durch nackte Fakten kommuniziert wird und daher für den normalen Menschen doch eher abstrakt bleibt.
Bestürzung, Entrüstung, Ohnmacht, Resignation, Fassungslosigkeit, Empörung und Staunen begleiteten mich während des Schauens, wirkungsvoll in Szene gesetzt mittels einer gekonnten Kameraarbeit von John Toll (u. a. Braveheart, Last Samurai, Vanillia Sky, Cloud Atlas, Jupiter Ascending) und einem einfühlsamen, aus 35 Musikstücken bestehenden Soundtrack von Terence Blanchard.
Kritik
Die bisweilen vernehmbare Kritik, der Film sei eine holzschnittartig realisierter Sklaven-Western, kann ich hingegen nicht bestätigen. Ein kommerziell auf Erfolg ausgerichteter, abendfüllender Spielfilm, der begeistern und nachdenklich stimmen will, muss neben einem soziologisch und psychologisch differenzierten Sittengemälde auch immer ein Auge auf Dramatik und Spannung legen. Zumal der historische Stoff diesbezüglich weiß Gott genügend geeignete Vorlagen liefert.
Die Schauspielerin Cynthia Erivo verkörpert sehr überzeugend die Rolle der Harriet Tubman. Aber auch besonders die Darstellung der Nebenrolle der Eliza Broddess, der Plantagenbesitzer-Witwe, gespielt von Jennifer Nettles, überzeugt in ihrer Eindringlichkeit und Verzweiflung auf Seiten der Antagonisten. Die Orte und die Ausstattung weisen auf einen sorgfältig umgesetzten Film hin, nichts wirkt billig, unfertig oder unglaubwürdig. Besonders die verwirrend hinreißenden Landschaftsaufnahmen tragen zum inhaltichen Spannungsrahmen hervorragend bei.
Fazit
Alles in allem ein sehr empfehlenswerter Film mit dem Prädikat „geschichtlich wertvoll“.
Filmstart: | 9. Juli 2020 |
Land/Jahr: | USA, 2019 |
Regie: | Kasi Lemmons |
Cast: | Cynthia Erivo, Janelle Monáe, Leslie Odom Jr. |
Länge: | 126 min |
Genre: | Drama, Historienfilm |
Altersfreigabe (FSK): | 12 |
Bewertung: | 8/10 |
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