Figurenfries mit Pilgern

ROM 01|21

Ad Romam

Figurenfries mit Pilgern auf dem Weg nach Rom am rechten Glockenturm des Doms von Fidenza, 12. Jh. (Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Ein Traum wies den Weg… – und die Zeit. Im Jahre 2020, es muss so im ausgehenden Herbst gewesen sein, die Menschen versicherten sich aufs Neue der gegenseitigen Rücksichtnahme durch Vereinzelung, Rückzug und asketischem Verzicht, als mir ein ungewöhnlich klarer und leichtens erinnerter Traum eine lange währende und kraftvolle Hoffnung vermittelte: Meine nächste Reise in die Ewige Stadt fände exakt dann statt, wenn der erste Advent auf einen 28. November fiele. Während mir das Festhalten von nächtlich-fantastischen Episoden im Gedächtnis über das Aufwachen hinaus üblicherweise schnelle Besinnung und ablenkungsarme Konzentration einfordert, gelang es mir in jener Nacht ohne Schwierigkeiten, die Übereinstimmung der beiden terminlichen Informationen in die Wachwelt hinüberzuretten. Kaum, dass ich am Morgen die Augen offen hatte, überprüfte ich im digitalen Kalender meines kleinen, dienstbaren, elektronischen Fast-Alles-Könners, wann diese nächtens bekanntgegebene Prophezeiung eintreffen würde.

Staunend stellte ich fest, dass sich diese Weissagung schon im darauffolgenden, also unserem jetzigen Jahre des Herrn MMXXI verwirklichen sollte. Nun haben es Hoffnungsschimmer, glitzernde Lichter am Ende von Tunneln, Silberstreife am Horizont so an sich, dass sie trotz ihrer Ungewissheit, ihrer spekulativen Vagheit den Charme einer Chance in sich bergen. Und je mehr der Adressat geneigt ist, seinen Geist darauf zu beziehen, oder viel wichtiger, sein Herz daran anzubinden, also daran zu glauben, kann solch eine glänzende und gleichzeitig nebulöse Aussicht eine Tür zu so etwas Wundervollem wie Zuversicht öffnen und damit in Zeiten von Bedrängnis Trost spenden. Und da in diesem Falle zudem der zeitliche Horizont im Bereich der real erlebbaren Absehbarkeit lag, stellte es sich als geradezu spielerisches Unterfangen heraus, die Strahlkraft dieser Erwartung lebendig zu halten.

Eine schöne Interpretation des Lichtes am Ende des Tunnels: Ausschnitt aus dem Ölgemälde „Vision vom Jenseits“ von Hieronymus Bosch, etwa 1502 (Bild: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Die rationalen, eher verstandesgesteuerten Mitbürger mögen empört einwenden, dass es sich hierbei um eine brachial selbsterfüllende Vorhersage handele, geboren aus dem Unter- oder Unbewussten, getragen von profanen Instinkten und gerichtet auf das ordinäre Bedürfnis des Selbsterhaltes. Diesen Zeitgenossen möchte ich an dieser Stelle ihren Glauben, denn nichts anderes ist dieser unter dem Deckmantel der objektiven Beweisbarkeit hervorgebrachte Erklärungansatz, gerne lassen. Sie haben mit diesem seit etwa 500 Jahren als en vogue zu bezeichnenden Modus der Weltaneignung die Dinge ohne Frage vereinfacht und normiert. Sie haben sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise Sinn, Sicherheit und Orientierung – in diesen Zeiten hart umkämpfte und massiv eingeforderte Ressourcen – gegeben, sich aber eben auch jeden Zaubers beraubt. Und wo wären, ach nein, wo sind wir in einer Welt, wenn Anmut durch Konstruierbarkeit und Lebendigkeit durch Prinzipien eingehegt würde/wird?

Nein, keine Telefonzelle, sondern die teutonisch-hauptstädtische Interpretation eines Möglichkeitenraumes: Das Gesundheitsregime in der Ausprägung einer Raucherbox (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Kurzum, die Zeit der Erfüllung rückte näher und im Zuge einer angenommenen menschlichen Mitwirkungspflicht gegenüber den geäußerten Plänen der Götter, buchte ich schon im Frühsommer die Flugtickets für diese Reise. Der buchstäbliche Aus-Flug sollte seinen Ausgangspunkt von einem sagenumwobenen und mir bis dato gänzlich unbekannten Bauwerk nehmen, nämlich dem neuen Aeroport unserer preußisch Reichs- und Kulturhauptstadt, dem von einigen vermuteten Nabel und Mittelpunkt des für uns beobachtbaren Universums. Das Schönste an diesem Ort, welcher sich anschickt, wahrlich würdig an die Tradition von im Tanach und dem Koran genannten anmaßenden und damit mustergültig verdammten Städten anzuknüpfen, ist, sie wieder verlassen zu dürfen. Das Gemüt beschwingt sich und die Schwere fällt ganz besonders von einer solcherart geschundenen Seele ab, wenn dies mit der Startgeschwindigkeit eines modernen Passagierflugzeuges geschieht. Die Tränenkanäle bleiben darum auch verständlicherweise trocken ob eines derartigen Abschiedes.

Dem Dunkel entkommen, im Lichte angekommen (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Und schon nicht einmal zwei Stunden später tritt der Reisende auf geheiligte Erde. Die Vibration geschichtlicher Bedeutsamkeit, das Ehrwürdige der Jahrhunderte, Jahrtausende, bescheiden und dennoch siegessicher von den seichten Seewinden herangetragen, vesetzt den Neuankömmling augenblicklich in andere Sphären. Sein Dasein wird umfangen vom Pulsieren einer Metropole, die die Zeiten an sich vorbeiziehen sehen durfte, die Zeugin werden konnte von immerwährenden Begehrlichkeiten im Namen unterschiedlichster Herren, seien sie aus Fleisch und Blut gewesen oder immaterieller Natur oder gänzlich dem Verstand entzogen.

Das behende Sich-Nähern einem solchen Ziel ist daher für mich Programm, schon lange und willig immer wieder. Als ein Eingewöhnen, ein Beschnuppern, eine Hingabe ist die obligatorisch gewordene Wanderung auf der Via Appia vom Süden in die Stadt hinein zu verstehen. Das dabei gleich Gebliebene mischt sich munter mit stets Neuem, wobei letzteres das aufmerksame Auge des Betrachters fordert, während das Erstere den Raum der Offensichtlichkeit beansprucht. Zusammen bilden das Wiederkennen und die Neuentdecken einen Reigen, dessen Gewahrwerden eine verbundene Innigkeit erweckt, die in schlicht in offene und erwartungslose Freude mündet. Mit dieser Frische im Gemüt ließ sich dann auch das diesmalig abwechslungsreiche Begrüßungswetter ertragen.

Die Sonne im Gesicht, den Weg im Rücken, den nassen Boden unter den Füßen (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Achtzehn Kilometer später kam ich an meiner Unterkunft an. Vor allem der Vermeidung hoher Kosten geschuldet, durfte es für den diesjährigen Aufenthalt eher etwas vom Typus ’Herberge‘ sein, mit Vier-Bett-Zimmer und Gemeinschaftsbad. Das mag für Annehmlichkeiten gewöhnte Reisende vielleicht ein wenig zu waghalsig und viel zu spartanisch klingen, für einen ehemaligen Pilger jedoch bietet dieses Kontrastprogramm eine gefällige Abwechslung vom heimischen Wohlleben: Es öffnet alle Sinne für das Andere und vor allem die Anderen und verwehrt quasi aus sich heraus die einfallslose Fortsetzung des Gewohnten in der räumlichen Fremde.

Eine neue Perspektive (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Und schnell entpuppt sich dieses Setting als überaus heilsam: Die Voraussetzungen und Gepflogenheiten des Herkunfts- und Heimatlandes hinter sich lassend, bemächtigen sich die lokalen Usancen und der regionale Habitus der Einheimischen der eigenen Denk-Korridore, Glaubenssätze und Handlungsmuster. Die Führungsrinne der eingeübten Lebensweise inklusive aller Begleiterscheinungen werden in eine fruchtbare Schwebe versetzt, sei es bei der Teilnahme am Straßenverkehr, der Auswahl an grundlegenden Lebensmitteln oder der Vorbereitung der nächtlichen Bettstatt, um nur ein paar augenscheinliche Beispiele zu nennen.

Eine für mich völlig neue Begleitung auf dem Weg, regina coeli (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Es scheint mir das eindringlichste Argument für und der erheblichste Nutzen durch einen vorübergehenden Ortswechsel der zu sein, das Sortiment der vermeintlichen Gewissheiten der vertrauten Lebenswirklichkeit so generell und konsequent wie möglich in Frage gestellt zu sehen. Das Sprichwort „andere Länder, andere Sitten“ birgt in sich, jenseits von voreingenommenen Bewertungen, vor allem das Moment der Bewusstseinserweiterung. Die Ausleuchtung der eigenen, kleinen Welt mit dem Licht der größeren solchen ermöglicht vor allem Staunen, Demut und Wachstum. Etwas, das, so merke ich es beim Verfassen dieser Zeilen gerade, mir schmerzlich gefehlt hat im Angesicht von zunehmend beengenderen Gegebenheiten, welche allenthalben durch einen von wo aus auch immer eingeforderten Positionierungszwang, durch das Bekenntnis zu einer säkularen Glaubenslehre geprägt ist.

Die Schönheit einer Blickverschiebung (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Und, ja, ich gebe es zu, diese Reise erweist sich neben vielem anderen auch als eine Flucht aus dieser Beklommenheit, oder viel besser und genauer: Als – den mit dem Buddhismus Bewanderten wird dieser terminus technicus nicht unbekannt sein – sog. ’geschicktes Mittel‘. Als hilfreiches Werkzeug, um Abstand zu gewinnen, die Draufsicht mit einem größeren Horizont zu ermöglichen und die Auswahl und das Ausmaß der beeinflussenden Faktoren einer tätigen Selbstreflexion zu vertauschen, zu verschieben, zu verwandeln. Vielleicht auch ganz im Gegenteil wieder eine weniger abstrakte zu Gunsten einer konkreteren Ebene einzuehmen, ergo mehr geradeheraus zu leben, weniger verklausuliert darüber nachzudenken.

Zugegeben, die Loslösung von den Einflüsterungen, das Unabhängigmachen von Missionierungsversuchen der Jünger der einen wie auch der anderen Seite, stellt sich als echtes Unterfangen heraus. Denn beide Seiten nehmen gleichermaßen für sich in Anspruch, die vorgenannten Ressourcen Sinn, Orientierung und Sicherheit in aller herausgekehrten Bescheidenheit und dabei mit bestmöglich vertuschter Vehemenz bereitstellen zu können. Und dies nur, um ein Spektrum von ins Feld geführten Primär-Tugenden wie Rücksichtnahme, Verantwortung und Verpflichtung zu bedienen. Bei näherem Hinsehen dient diese ’neue Sittlichkeit‘ letzlich und wieder einmal aber nur dazu, sich unbedingt zugehörig zu fühlen, eine gültige Welterklärung konsistent zu halten und Trost zu spenden, weil Angst vorherrscht.

Fast am Ende der Via Appia, kurz vor dem Quo Vadis (Foto: Sarah A. Besic, CC BY-SA 4.0)

Zurück jedoch zur caput mundi: Nach dem obligatorischen Installieren in der Bleibe gab ich mich erst einmal dem kräftigenden Schlaf hin, nur um darauf – erneut zu Fuß, versteht sich – die Segnungen des Kapitalismus in Anspruch zu nehmen. Es war nämlich Black Friday, und damit Anlass genug, ordentliche Rabatte auch und gerade im Bekleidungshandeln erwarten zu können. Flugs erwarb ich in einem meiner Lieblingsgeschäfte eine rasant reduzierte Bio-Baumwoll-, Fairtrade- und umweltfreundlich gearbeitete Jeans und begab mich im Anschluss unter Mitnahme und Verzehr einer Straßenverkaufs-Pizza wieder in die vorübergehende Heimstatt, um mich endgültig dem verdienten Schlaf hinzugeben.