Gedanken zu einem Sneak-Preview-Film

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Es ist schon ein wenig länger her, dass ich einen abendfüllenden Spielfilm anschaute, der mich zu Tränen gerührt hat. Gestern war es wieder einmal soweit. Nach einem geradezu horrorfilm-geschwängerten Sneak-Preview-Jahr 2024 ist meine Erwartung – ja, trotz allem bringe auch ich diese immer mehr oder weniger mit in die entsprechenden Vorstellungen – an das cineastische Geschehen der Montagabende deutlich verhaltener, gedämpfter, zurückhaltender. Erst der vorherige solche Termin eine Woche zuvor endete für mich wieder einmal schon nach zehn Minuten. Filmgenres sind ja wie vieles andere auch Gott sein Dank Geschmackssache und ich habe irgendwann einmal beschlossen, mir meinen Kopf und mein Herz nicht mit Grausen und Blutorgien vollmüllen zu lassen.

So bot also der gestrige Abend ein heilvolles Kontrastprogramm, welches für all die ekeldurchtränkten Schaudergeschichten mehr als entschädigte.
Ich bin ja der Meinung, dass schon die ersten zehn, nein, fünf, vielleicht auch nur zwei Minuten eines Filmes Aufschluss darüber geben können, mit welcher Qualität man die kommenden durchschnittlich anderthalb Stunden rechnen darf.
Wie bei der Eingangssequenz eines Romans geben die ersten paar Szenen deutlich Auskunft, ob einem ein Opus Magnum oder ein vernachlässienswertes C-Movie (oder irgendetwas dazwischen) bevorsteht.
Die feinfühlige Abstimmung von Motivwahl, Bildeinstellung, Kamerabewegung, visuellen Effekten, Schnitt und Sound legt offen, wieviel Mühe Regie und Produktion bereit sind aufzuwenden, um die geneigten Zuschauer in ihren Bann zu ziehen.
Das Erzählen einer Geschichte, Märchen beginnen regelmäßig mit der zauberhaft verheißenden Formel „Es war einmal…“, braucht immer irgendeinen Anfang. Dieser muss nicht zwangsläufig zeitlich der am weitesten zurückliegende sein. Viele Filme bedienen sich mitunter mehrerer Zeitebenen, wecken Interesse durch Rückblicke, oder machen neugierig durch eine Vorschau in die Zukunft. Allen gemeinsam ist jedoch, dass das Publikum mehr oder weniger sanft oder rabiat an die Hand genommen wird und entführt wird in eine Welt jenseits der gewohnten Alltagsrealität. Der Denkapparat mit seinen eingefahrenen Vorstellungsbahnen hält staunend, fasziniert oder ungläubig inne und folgt wissbegierig und schaulustig dem Ausflug in andere Bewusstseinsräume, Wahrnehmungsebenen und Lebenswirklichkeiten.
Wie glaubwürdig und eindringlich diese Spritztour für die Betrachter werden kann, wird durch unzählige, teilweise sich gegenüberstehende Faktoren bestimmt. Seien es plötzliche Schockmomente, eine unwirkliche Idylle, Reglosigkeit oder rasante Bewegung, ein harmonischer Dialog, ein sarkastischer Kommentar aus dem Off, oder gar schwelende Stille, der erste Moment eines Filmes „tauft“ gleichermaßen das Werk, offenbart den Zuschauern seine Mitgift und gibt seine Visitenkarte mit auf den Weg.
So auch in dem 2023 gedrehten Drama „Sing Sing“ des noch recht unbekannten, texanischen Regisseurs Greg Kwedar, dessen erst zweite Regiearbeit damit vorliegt. Das Drehbuch dieser nah an der Wirklichkeit gehaltenen Geschichte basiert auf dem 2005 erschienenen, vielbebilderten Artikel „The Sing Sing Follies“ (zu Deutsch etwa: „Die Sing Sing Narreteien“) von John H. Richardson im Männermagazin Esquire. Darin wird aus erster Hand von einem 1996 gegründeten Projekt erzählt, welches sich zum Ziel gesetzt hat, inhaftierten Schwerverbrechern durch die Vermittlung von und aktiver Teilhabe an darstellender Kunst eine persönlichkeitsbildende Alternative zum eintönigen Gefängnisalltag zu bieten. Die anfangs nur in der am Hudson-River gelegenen Sing Sing Correction Facility zugelassene Rehabilitationsmaßnahme („Rehabilitation Through the Arts“, RTA) ist inzwischen in vielen nordamerikanischen Justizvollzugsanstalten implementiert.
Die Drehbuchautoren Brent Buell und Clint Bentley, sowie der ebenfalls als Skriptverfasser tätige Regisseur haben daraus einen zutiefst berührenden Plot gestrickt, der einen unerwartet in eine Welt trägt des Schauspielerns in einem Hochsicherheitsgefängnis.
Und so zeigt die Eröffnungssequenz zunächst ganz harmlos die Schlussszene eines Theateraufführung, bei der ein Abschnitt aus William Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ zum Besten gegeben wird:
„Weh mir! Nach allem, was ich jemals las
Und jemals hört in Sagen und Geschichten,
Rann nie der Strom der treuen Liebe sanft;
Denn bald war sie verschieden an Geburt –
Bald war sie in den Jahren mißgepaart –
Bald hing sie ab von der Verwandten Wahl –
Und war auch Sympathie in ihrer Wahl,
So stürmte Krieg, Tod, Krankheit auf sie ein
Und macht‘ ihr Glück gleich einem Schalle flüchtig,
Wie Schatten wandelbar, wie Träume kurz,
Schnell wie der Blitz, der in geschwärzter Nacht
Himmel und Erd in einem Wink entfaltet;
Doch eh ein Mensch vermag zu sagen: schaut!
Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab:
So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein.“
William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum, Akt 1, Szene 1
Das inhaltliche Gerüst des Filmes ist gesetzt. Lysander, der Angebetete der Athenerin Hermia, beklagt sich in dem im Original als Dialog vorgetragenen Abschnitt darüber, dass die wahre Liebe nie einfach verläuft. Er reflektiert einerseits die Schwierigkeiten und Hindernisse, die Menschen in ihrem Leben überwinden müssen und hält dem andererseits entgegen, wie Liebe und Hoffnung, auch in einer Umgebung, die keine ideale Grundlage dafür bietet, trösten und tragen können. Seine Worte sind ausgedrückt als eine Art universeller Wahrheit, die sich im urspünglichen Theaterstück wie auch in diesem Film durch die gesamte Handlung zieht.
Nach tosendem Applaus am Ende dieses Monologes ereilt einen dann jedoch schnell die raue Wirklichkeit: Es stellt sich heraus, dass die Aufführung hinter meterdicken Beton-Mauern mit Stacheldraht-Umzäunung stattfand und die Darsteller diszipliniert wieder in ihre Zellen eingeschlossen werden.

Ohne Beschönigung wird in den folgenden 105 Minuten der allzumenschliche Mikrokosmos wegen Kapitalverbrechen zu langjährigen Haftstrafen verurteilter Menschen skizziert, durchdrungen und umkreist. Die differenziert aufgebauten, teilweise sehr unterschiedlichen Charaktere werden dabei überwiegend von ehemaligen Häftlingen gespielt, die sich selbst darstellen. Die Hauptrolle des „Divine G“ hingegen, eines unschuldig einsitzenden Gefängniss-Insassen, wird durch den bekannten und Golden Globe und Oscar nominierten Schauspieler Colman Jason Domingo gespielt, während der Rehabilitationsprojekt-Regisseur Brent Buell durch den ebenfalls Oscar nominierten Paul Raci gemimt wird.
Die Handlung findet im Folgenden auf zwei miteinander eng verwobenen Ebenen statt: Einerseits in der Perspektive des Theaterprojektes und seiner Mitglieder, welche für die Inszenierung einer neuen Aufführung verantwortlich zeichnen, andererseits werden die vielfältigen, teilweise außerordentlich existenziellen Belange der beteiligten Protagonisten schmerzhaft sichtbar gemacht. Die glaubhaften und ehrlichen Dialoge malen dabei ein nachvollziehbares Bild von Wohl und Wehe des Lebens auf engstem Raum in Unfreiheit. Der Film scheut sich dabei nicht, tief in die seelischen Abgründe der Figuren zu blicken. Und auch wenn einem beim Anschauen des Filmes zumeist bewusst bleibt, dass es sich bei den dargestellten Menschen um Straftäter handelt, ist der Regisseur in der Lage, das Publikum warme Sympathie für die Gefangenen entwickeln zu lassen.
Abseits gängiger Stereotypen bei anderen Knastfilmen werden die Zuschauer kraftvoll in einen Bann gezogen und in der Schwebe gehalten zwischen der brachialen, unausblendbaren Realität des Gefängnisalltages, der deutlich durchscheinenden Verletzlichkeit sich selber erforschender und gegenseitig haltender Menschen und der bedingungslosen Hingabe an die Schauspielerei.
Es ist mir lange nicht vergönnt gewesen, in einem Kinofilm die Taschentücher-Packung zücken zu dürfen, weil die Rührung über das Gesehene so groß war.
Ein großartiges Epos, dem es in höchstem Maße gegönnt sei, dass es bei der bevorstehenden Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag, dem 2. März, wenigsten eine der drei vergebenen Nominierungen (Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarsteller) verwirklichen möge!
Ein rares Exemplar cineastischer Erzählkunst mit klar 10 von 10 Punkten.
Filmstart: | 27. Februar 2025 |
Land/Jahr: | USA, 2023 |
Regie: | Greg Kwedar |
Cast: | Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San Jose |
Länge: | 107 min |
Genre: | Drama |
Altersfreigabe (FSK): | 12 |
Bewertung: | 10/10 |