Gedanken zu einem Sneak-Preview-Film

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Warum tun Menschen Dinge?
„Lustige Frage!“, vermeint der Autor derselben quasi aus den Off zu hören, noch bevor er irgendwelche spekulativen Erwiderungen auf sein sprichwörtliches, digitales Papier gebracht hat.
Natürlich kann dieses so formulierte Wissensbegehr weder erschöpfend und schon gar nicht abschließend befriedigt werden. Aber es gibt natürlich einen bisher nicht enthüllten Hintergrund, der diese Exploration begründet.
Schränken wir dieses Forschen mal ein, indem wir den Rahmen scheinbar über Gebühr erweitern: Warum leben Menschen ihr Leben so, wie sie es leben?
Die geneigte Küchenpsychologin, beziehungsweise der sich berufen fühlende Welterklärer (ja, auch das sogenannte „Mansplaining“ ist, dem Herrn sei Dank, durchaus kein auf Cisgender-Männer beschränktes Phänomen, sondern hat eine geschlechterübergreifende Verankerung, wenn auch mit unterschiedlichen Verschwerpunktungen), die Küchenpsychologin oder der Welterklärer also, würden darauf verzugslos ein buntes Spektrum an Erklärungsversuchen zum Besten geben. Wobei sich diese Entgegnungen ziemlich schnell und erfrischend klar zwei scheinbar gegensätzlichen Kategorien zuordnen ließen: Ein Teil der Äußerungen ginge in die Richtung, dass es die Umstände seien, die zu einem bestimmten Handeln veranlassten, während der andere Teil auf den Segen der relativen Willensfreiheit verwiese und damit die bewusste Absicht in den Vordergrund stellte.
Bei genauerem Hinsehen, ich will darauf jetzt aus Gründen der inhaltlichen Ausrichtung dieses Artikels nicht tiefer eingehen, wiedersprechen sich diese Darlegungen jedoch gar nicht, sondern stellen nur die zwei unterschiedlich anmutenden Seiten ein und derselben Medaille dar.
Das Handeln als Spannungsfeld
Unser Handeln und damit auch der Gang der Dinge ist zugleich die Frucht unserer ureigenen Ideen, Wünsche und Bemühungen, wie auch mehr oder weniger straff bestimmt durch äußere Impulse, Grenzsetzungen, Anziehungen und Abstoßungen.
Da sich die Ingredenzien dieser verwirrenden Ursachen-Melange jedoch im alltäglichen Geschehen zumeist nicht zu erkennen geben, verschwenden wir nicht allzu häufig Gedanken auf die Gründe für unser Tun, sondern nehmen vielmehr pragmatisch das Geschehen – und eben auch unser Handeln – als gegeben hin.
Und eben darauf zielt die oben formulierte Frage ab: Es ist der zugleich brachial verallgemeinernde und zaghaft sondierende Versuch, den Auslösern für unser Agieren nachzuspüren, die Fährte aufzunehmen hinsichtlich des Verlaufes von Entwicklungen, die eben zu genau der Gegenwart geführt haben, die im Spannungsbogen zwischen einem wollenden und einem müssenden Machen sichtbar wird.

Und genau das unternimmt akribisch und brilliant das Regie-Debüt der französischen Schauspielerin Céline Sallette. Der am altehrwürdigen Conservatoire national supérieur d’art dramatique in Paris ausgebildeten Mimin gelingt es in ihrem in Frankreich und Belgien gedrehten und im Frühsommer 2024 auf den Filmfestspielen in Cannes vorgestellten Erstlingswerk in etwas über anderthalb Stunden, den frühen Werdegang der international bekannten Künstlerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle als dramatisches Biopic auf die Leinwand zu bringen.
Verletzungen thematisieren
Das besondere Augenmerk liegt dabei auf den detailliert und kritisch herausgearbeiteten psychologischen Aspekten dieser inneren Reise der Protagonistin, deren von außen sichtbares Kondensat naturgemäß nur schlaglichtartig wahrnehmbar wäre. Und obwohl unsere Gesellschaft in den letzten sieben Jahrzehnten seit dem Beginn dieser akribisch nacherzählten Odyssee deutlich an Sensibilität und Verständnis für seelische Verletzungen hinzugewonnen hat, bedarf es dennnoch eines so schonungslos ehrlichen Filmwerkes, um die tiefgreifende, kaum nachvollziehbar aufwühlende Erlebnisrealität sexuellen Missbrauchs im Ansatz zugänglich zu machen.
Ja, es geht in diesem Film über eine Weltklasse-Künstlerin auch um Kunst, wenngleich ganz offenkundig selbige nicht ein einziges Mal offen zu sehen ist (was übrigens auf der Sachebene ganz banal lizenzrechtliche Gründe hat). Das alleine ist schon eine Leistung für sich. Die Bildsprache, die vielmehr ausschließlich auf die Entstehung der Werke fokussiert, mithin einen erzählerischen Verweis auf den im Mittelpunkt stehenden Prozess darstellt, im Gegensatz zu einer Endprodukt-Beschreibung, gibt damit gleichenfalls einen Hinweis auf die immerwährende Unabgeschlossenheit, auf das Unfertige, Imperfekte einer damit einhergehenden Herausforderung, nämlich dem Umgang mit dem Unaussprechlichen, dem Unerträglichen, dem Unfassbaren.
Und das gelingt der kanadischen Hauptdarstellerin Charlotte Le Bon mit Bravour. Sie sieht der Anfang des Jahrtausends verstorbenen Künstlerin nicht nur ähnlich, sondern konnte sich bei den Dreharbeiten in das handwerkliche Tun problemlos hineinfühlen, da sie selber mit den Methoden und Techniken der Malerei und Objektkunst aus eigener Anschauung bestens vertraut war. Entsprechend verwendet sie ihr schauspielerisches Können ganz auf die Verkörperung der facettenreichen und wiedersprüchlichen Frauenrolle.
Kunst als Medizin
Die Handlung beginnt Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Paris. De Saint Phalle, damals noch unter dem Nachnamen Ihres ersten Ehemannes, Harry Methews, bekannt, ist zusammen mit ihrer Tochter Laura gerade eben aus Boston an die Seine gezogen. Aus mehreren, albtraumartigen Rückblenden erfahren die Zuschauer Episoden ihrer Kindheit. Geboren 1930 in einem Nobelvorort der Hauptstadt Frankreichs in eine wohlhabende, bis ins 13. Jahrhundert zurückreichende Adelsfamilie hinein, wächst die Tochter eines ehemals erfolgreichen, französischen Investmentbankers und einer US-amerikanischen Schauspielerin an der nordamerikanischen Ostküste auf.
Schon früh im Film wird die unheilige Beziehung zu ihrem Vater deutlich und bildet damit das Gewebe, welches sich wie eine „unabwendbare Lästigkeit“ durch ihre Biografie zieht. Dramaturgisch wird das Publikum dabei erst einmal ebenso im Ungewissen gelassen was die Geschichte hinter der Geschichte betrifft, wie dies der psychische Selbstschutzmechanismus der ambulant heilsamen Verdrängung bei der Portraitierten selber bewirkte.
Erst langsam arbeitet sich die verletzte Frau einerseits selber Schicht um Schicht durch die Rüstung ihrer Seele und wird dabei andererseits von den unausweichlichen Echos ihres Kindheitstraumas explosionsartig eingeholt. In schmerzhafter und von vielen inneren wie äußeren Rückschlägen geprägter Auseinandersetzung mit ihrem tiefsten Kern und der in Folge dessen steten, von Unwägbarkeiten durchdrungenen Aushandlung der daraus hervorgehenden Erkenntnisse mit ihrem Lebensumfeld wächst die Hauptperson mit dem hier unzweifelhaft therapeutisch zu bezeichenden Mittel des künsterlischen Ausdrucks.
Der Film endet chronlogisch sehr bewegend an genau dem Punkt, der das international bekannt gewordenene Hauptwerk noch vollständig ausschließt. Wie in einem Befreiungsschlag kumuliert alles Streben, alle Mühe, alles Ringen, dem verwundeten Ich eine Stimme zu geben, die sich gegen aufkommende Widrigkeiten zu behaupten weiß, in der kreativen Kraft der Wut auf den einstigen Täter, was sie von der ungefragt aufoktroyierten Opferrolle in eine uneingehegt-weibliche Freiheit transformiert. Sie selber sagte dazu:
„Ich war eine zornige junge Frau, doch gibt es ja viele zornige junge Männer und Frauen, die trotzdem keine Künstler werden. Ich wurde Künstler, weil es für mich keine Alternative gab – infolgedessen brauchte ich auch keine Entscheidung zu treffen. Es war mein Schicksal. Zu anderen Zeiten wäre ich für immer in eine Irrenanstalt eingesperrt worden – so aber befand ich mich nur kurze Zeit unter strenger psychiatrischer Aufsicht, mit zehn Elektroschocks usw. Ich umarmte die Kunst als Erlösung und Notwendigkeit.“1

Die weithin sichtbaren Zeugnisse dieser wunderbaren Metamorphose, die „Nana“ genannten, vielfarbig gestalteten Pop Art-Objekte, oftmals rubensartige Frauenkörper mit riesenhaft betonten Geschlechtsmerkmalen, kann man in vielen Orten der Welt bewundern, u. a. in Paris, Zürich, Stockholm, Thessaloniki, Montreal, Jerusalem, Lissabon und Hannover. Die letztgenannte Stadt hat die Schöpferin der farbenfrohen Skulpturen zur Jahrtausendwende übrigens zu ihrer bisher einzigen(!) Ehrenbürgerin ernannt. Auch diesbezüglich gibt es also noch viel zu tun!
Neben der exzellenten inhaltlichen Umsetzung der Biografie der Künsterlin weiß der Film ebenso durch feinfühlige Kameraeinstellungen, eine glaubhaft emotionalisierende Szenen-Dramaturgie, kluge Dialoge, eine geschickte Bildmontage und einen zauberhaften Soundtrack zu überzeugen. Es zeigt sich wieder einmal: „Die Franzosen“ können großartige Filme machen! Unbedingt sehenswert.
Filmstart: | 20. März 2025 |
Land/Jahr: | Frankreich, Belgien, 2024 |
Regie: | Céline Sallette |
Cast: | Charlotte Le Bon, John Robinson, Damien Bonnard |
Länge: | 98 min |
Genre: | Drama, Historie |
Altersfreigabe (FSK): | 12 |
Bewertung: | 9/10 |
- Katalog zur Ausstellung Niki de Saint Phalle, Bilder – Figuren – Phantastische Gärten in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München von 26. März bis 21. Juni 1987, Hrsg. Carla Schulz–Hoffmann mit Beiträgen von Pierre Descargues, Pontus Hulten, Pierre Restany, Danie Spoerri, Jean Tinguely sowie Niki de Saint Phalle.