Gropiusstadtblick (Foto: Colin Smith, WMC, CC BY-SA 2.0)

Sonne und Beton

Gedanken zu einem Spielfilm

Gropiusstadtblick (Foto: Colin Smith, WMC, CC BY-SA 2.0)
Der Blick über den ehemaligen Grenzstreifen in Richtung Berlin-Gropiusstadt (Foto: Colin Smith, Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0)

Lesezeit: ca. 10 min

„Warum keine normale Filmkritik?“, wird sich der Eine oder die Andere fragen. Sneak-Previews fordern diese Textgattung doch geradezu heraus. Und selbstverständlich werde ich im Zuge der folgenden Absätze etwas zur Entstehung, den Eckdaten und der Qualität dieses abendfüllenden Filmes zum Besten geben. Der spezielle Inhalt des Werkes, seine handelnden Personen und vor allem der Ort des Geschehens fordert jedoch viel mehr heraus, als das Abhaken einer Checkliste von Eigenschaften und dem Beschreiben eines Plots. Dazu ist diese tonunterlegte Bewegtbildschau viel zu berührend, viel zu verstörend, und, ja, viel zu überwältigend.

Ich fange mit dem Ende an.
Da saßen wir nun. Eine kleine Gruppe Verschworener, die sich allmontäglich darauf einlassen, für einen moderaten Obulus von fünf Euro in einen abgedunkelten Saal zu setzen und vorab nicht zu wissen, wes Geistes Kind die inzwischen nicht mehr auf Zelluloid gebannten, sondern in Form von Datenpäckchen vorliegenden, audiovisuellen Ideen, Gedanken und Botschaften seien mögen, die die nächsten gut anderthalb Stunden über die Leinwand flimmern und in die eigenen Gehörgänge dringen (Sneak-Preview).
Betroffenheit, Nachdenklichkeit, aber auch Begeisterung und Amusement, sowie zwiegespaltene Beglückung und unausgesprochene Dankbarkeit standen auf unseren Gesichtern, als das Licht im Saal wieder anging. Dem Wahrgenommenen nachhängend, verließ die Cineasten-Schar den Kinosaal und plauderte am Ausgang der Passage angeregt noch ein wenig über erste Eindrücke.

Deutscher Trailer des Films „Sonne und Beton“ (2023), Constantin Film, YouTube

Und mir schwirrt dabei die ganze Zeit das Wort ’Bias‘ durch den Kopf. Ein erst seit wenigen Jahren in Mode gekommener Begriff, der aus dem Englischen Eingang gefunden hat in die deutsche Sprache. Wörtlich meint seine eher neutrale Übersetzung ’Neigung‘ und ’Ausrichtung‘, häufiger aber zielt er auf die Bedeutungen ’Tendenz‘ und ’Parteilichkeit‘ oder noch schärfer ’Einseitigkeit‘, ’Befangenheit‘ und ’Verzerrung‘ ab. Besonders innerhalb der sich als postmodern gebenden Kreise der Geisteswissenschaften liegt dahinter der als notwendig erkannte Anspruch einer selbstkritischen Pflicht zum Offenlegen von scheinbar selbstverständlich angenommenen Standpunkten und Blickrichtungen. Und dies nicht aus Selbstzweck, sondern, um edas eigene Tun auf wahlweise Überzeichnungen, Marginalisierungen oder grundsätzliche Fehleinschätzungen abzuklopfen.

’Bias‘ also. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich in ein fein gesponnenes Netz aus kognitiven Verzerrungen verstrickt bin, die es mir einerseits unmöglich machen, etwas Gehaltvolles über diesen Film zu sagen, es mir andererseits dies vom Grunde her verbieten. Doch worum geht es eigentlich?

Eckdaten zum Film

Der Film „Sonne und Beton“ ist ein klassiches Drama (Wikipedia: „Kriminalfilm“…???WTF?!). Gedreht im Herbst 2021, sollte er bereits 2022 herauskommen. Wegen der äußeren Umstände war sein Veröffentlichungstermin in Deutschland jedoch auf den 2. März 2023 verschoben worden. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Felix Lobrecht 1 und skizziert die Erlebnisse von vier Jugendlichen, die Anfang der 2000er Jahre in einer Berliner Hochhaussiedlung leben. Die Handlung beschreibt einen Zeitraum von nur wenigen Tagen und stellt ein sehr breites Spektrum an Ereignissen im Alltag der jungen Männer dar. In einzelnen Handlungssträngen und doch untrennbar miteinander verwoben, werden die Herausforderungen des Erwachsenwerdens, ambivalente Erfahrungen im Freundeskreis, Sorgen und Nöte aus dem familiären Hintergrund, Konfrontationen im sozialen Umfeld, sowie Konflikte in und mit der Schule zu einem mitreißenden Schaupiel zusammengefügt.

Dreh- und Handlungslocation

Wohnhaus Ideal - Berlin-Gropiusstadt - WMC - Bernard Ladenthin - CC0 1.0
Wohnhaus Ideal – Berlin-Gropiusstadt (Foto: Wikimedia Commons, Bernard Ladenthin, CC0 1.0)

Als dankbare Kulisse erweist sich der Neu-Köllner Ortsteil ’Gropiusstadt‘, eine Trabantensiedlung, welche in den Jahren 1962 bis 1975 im ehemaligen Westteil der Stadt nach Plänen des gefeierten Archtiekten Walter Gropius errichtet wurde 2. Die Regie führte der vielfach presigekrönte David Wnendt, der dem Publikum vor allem von seinem großartigen Debutfilm „Kriegerin“ (2011) und den Romanverfilmungen „Feuchtgebiete“ (2013) und „Er ist wieder da“ (2015) bekannt sein dürfte. Insbesondere sein Erstlingswerk verweist auf zwei wesentliche, augenfällige Qualitätsmerkmale seiner Arbeit: Sorgfältige Recherche und glaubwürdige Detailtreue.

Authentizität und Glaubwürdigkeit

Womit wir wieder beim ’Bias‘ wären…
Das Buch „Sonne und Beton“ stammt aus der Feder eines Mitmenschen, der seine Kindheit eben am Spielort des Filmes verbracht hat. Er ist sozusagen mittdrin aufgewachsen. Wenn auch nach seiner eigenen Angabe die Handlung nicht streng autobiografisch zu verstehen ist, so sagt er, hätte er „viele Sachen, die im Buch vorkommen und nun auch im Film passieren, […] eins zu eins selbst erlebt“. Das muss ich ihm glauben. Mir bleibt gar nichts anderes übrig.

Auch kann ich mir das Presseheft zum Film nehmen und daraus zitierend zur Kenntnis nehmen, dass es sowohl dem Buchautor, dem Regisseur als auch dem ganzen übrigen Stab des Filmes sehr daran gelegen war, so authentisch wie möglich eine Welt darzustellen, die mir in meiner Alltagsrealität weitestgehend verschlossen geblieben ist. Ja, sicher, auch ich habe in der Vergangenheit zwangsläufig immer wieder – geschuldet meinem sehr netten kulturellen und religiösen Herkunftsmix, meinem recht breit angelegten Sozialisationsumfeld und meinen unterschiedlich determinierten Lebensmittelpunkten in teilweise geradezu hermetisch abgeschlossenen Millieus – in spannende, herausfordernde und echt parallele Gesellschaftsbiotope “hineingerochen“. Ich muss aber zugeben, dass bei all dieser, auch längerfristigen Exploration, sich immer eine mehr oder weniger gutsituierte Bildungbürger-Homebase befand, die im Zweifel als Fallback die Sicherheit eines verlässlichen, freundschaftlich-familiären Zuhauses bot. Und diese soziale Verwurzelung, wie optional ich sie in den verschiedenen Lebensphasen auch immer gesehen haben mag, stellte doch grundsätzlich das Daseins-Grundrauschen dar.

Gropiusstadt - WMC - Bautsch - CC0 1.0
Gropiusstadt (Foto: Wikimedia Commons, Bautsch, CC0 1.0)

Was mich wieder zu dem Film führt.
Ich kann darüber schreiben, dass er mich sehr berührt, zum Teil erschüttert hat. Ich kann vermeintlich wissend und denkschwer mit dem Kopf nicken und die soziale Brennpunkthaftigkeit bedauern, ja sogar anprangern. Ich kann mich bemühen, mit den Belangen der Protagonisten Empathie zu zeigen, kann versuchen, gegenüber ihren benachteiligenden Voraussetzungen Mitgefühl zu entwickeln. Ich kann Verständnis kundtun bezüglich ihrer resultierenden Denkstrukturen und den daraus folgenden, teilweise zweifelhaften Handlungsentscheidungen. Ich könnte, ultima Ratio, wenn ich wollte, sogar beschließen, mich für diese Menschen zu verwenden.

Aber mal ehrlich: Hat mich jemand darum gebeten? Habe ich das Mandat, dies überhaupt zu tun? Und wenn ich glaube, dass ’ja‘, auf welcher Grundlage? Verantwortungsethik? Barmherzigkeit? Gesellschaftspolitisches Pflichtgefühl? Schließe ich mich dann nicht nur dem Kreuzug der vielgestaltigen proxy rager3 an, die dem Impuls folgend, die Welt verbessern zu wollen, sich ungefragt und unwissend in alle möglichen Angelegenheiten anderer einmischen?
Oder suche ich andererseits nur nach Gründen, mich aus dem sozialpolitischen Diskurs fernzuhalten? Jede Beteiligung an den geschilderten Zuständen von mir zu weisen?

Wir ahnen es: Der Film ist offenbar nicht nur gut, sondern weit darüber hinaus hervorragend! Die kluge, sehr differenzierte Inszenierung mit bildgewaltigen Kameraeinstellungen von Panoramen trostlosen Wohnbetons bis hin zu showdownesken Western-Closeups auf die Gesichter der Schaupieler, rasant-dynamische Handlungachsen saugen das Publikum so tief in das Geschehen, dass man beinahe vergisst, im Kino zu sitzen. Unverblümt dargestellte Gewaltszenen passen sich ebenso echt in die geschilderte Erlebniswelt ein, wie die originellen, jugendlich-unbeholfenen Kontaktversuche mit dem anderen Geschlecht4. Das fast das ganze dialogische Geschehen in der gossigen Jugendsprache abgewickelt wird, setzt dem noch die Krone auf.

Hauptdarsteller und Autor von Sonne und Beton - WMC - Elena Ternovaja - CC BY-SA 3.0
Hauptdarsteller und Autor von „Sonne und Beton “ (Foto: Wikimedia Commons, Elena Ternovaja, CC BY-SA 3.0)

Im Spannungsfeld zwischen einem eigentlich zum Scheitern verurteilten Bildungssystem, verstetigten, wechselseitigen und meist gewaltvollen Machtprojektionen und verwegenen oder sedierenden Ausbruchsversuchen, verdichtet sich die Handlung des Filmes und lässt die weitestgehende Unentrinnbarkeit aus einer solchen Herkunft offenbar werden5. Bei mir hinterließ das ein Staunen und ein Gefühl von übermächtiger Ohnmacht. Der Film entwickelt an jeder Stelle eigene Standpunkte, die den Zuschauer auffordern, sich mit einer fremden Lebensrealität auseinanderzusetzen. Von Außenstehenden (und eben meist den Bessergestellten der Gesellschaft) eilfertig als Klischees kritisierte Sachverhalte werden in der ganzen schmerzhaften und kaum auszuhaltenden Konsequenz und Widersprüchlichkeit behandelt und fordern zur reflektierten Haltungsinventur auf. Dabei merkt man dem Film seine Glaubwürdigekeit schon dadurch an, dass sämtliche Schauspieler in einem großangelegten Streetcasting-Prozess gesucht und gefunden wurden und die Komparsen ausnahmslos direkt aus dem Viertel kamen.

Gradezu grandios untermalt wird diese Geschichte von einem Soundtrack, der dem Millieu entstammt. Viele der Künstler spielen in dem Film Nebenrollen.
Hier ein kleiner Vorgeschmack auf die Musik:

Aus dem Soundtrack des Filmes „Sonne und Beton“ (2023): NNOC – Sonne und Beton ft. LUVRE47, Olexesh, AOB, Brudi030, GRiNGO, Kalazh44, B-Tight (Milez Beats)
Aus dem Soundtrack des Filmes „Sonne und Beton“ (2023): Ausblick Trist – Luvre47
Aus dem Soundtrack des Filmes „Sonne und Beton“ (2023): Hinterm Block – Luvre47

So, und wie war das nun mit meinem Bias?
Naja, ganz einfach: Das Biotop des Buches und des Filmes ist für mich ein komplett anderes Universum. Folglich ist meine Sicht auf diesem Film eben auch mutmaßlich verzerrt. Ich bin befangen. Ich kann über die handwerkliche Güte und die spezielle Machart des Werkes etwas schreiben (√ hab’ ich getan), ich kann über die handelnden Personen innerhalb des Plots etwas widergeben (√ hab’ ich getan). Ich kann schließlich beschreiben, was der Film in meinem kleinen, inneren Universum auslöst (√ hab ich auch getan). Das ist zwar schon viel, aber mehr geht nicht.

Und dann kann ich über die, bestenfalls aus zweiter Hand weitergegebenen, gesellschaftlichen Hintergründe mit anderen reden, mir Gedanken darüber machen. Vielleicht werde ich beim nächsten Berlin-Besuch einen Ausflug in das betreffende Viertel unternehmen (wobei das schon wieder so ein bisschen wie ein Zoobesuch anmutet und also durchaus hinterfragenswert ist).

Fazit

In jedem Falle aber kann ich den Film sehr empfehlen! Er eröffnet mit Sicherheit Perspektiven, er weitet sehr wahrscheinlich Horizonte und macht darüberhinaus vielleicht auch ein wenig demütig.

Filmstart: 2. März 2023
Land/Jahr: Deutschland, 2023
Regie: David Wnendt
Cast: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling
Länge: 119 min
Genre: Drama
Altersfreigabe (FSK): 12
Bewertung: 9/10

  1. Lobrecht, Felix: Sonne und Beton, Roman, Ullstein, Berlin, 2018. Taschenbuch: 12,99 €, eBook: 9,99 €, hier bei Amazon: https://amzn.to/3Jdet7d
  2. Dazu lasse ich mich hier nicht noch weiter aus und verweise nur auf Adorno: „Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, […] die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner[…]“, Adorno, Theodor: Minima Moralia – Reflexion aus dem beschädigten Leben, Suhrkamp, Berlin, 1951
  3. Proxy rage‘ ist die aus dem angloamerikanischen Sprachraum kommende, leicht bis mittelschwer despektierliche Bezeichnung für das Phänomen, dass sich, überwiegend nicht selber betroffene, Menschen in gerne medialer Inszenierung dem tugendhaft-moralinsauren Furor der Unterstützung von ihnen als diskrimiert erkannter Gruppen mit Inbrunst hingeben. Neben dem Umstand, dass dieses Handeln einer streng gesinnungsethischen Maxime folgt, die die Konsequenzen ihrer eindimensionalen Stoßrichtung wenig bis gar nicht im Blick hat, besteht häufig die Gefahr, dass über die Köpfe der meisten “Betroffenen“ hinweg agiert wird. Ferner liegt die Vermutung nahe, dass sich solcherart apologetisch Handelnde ihrer individuelle Pathologien durch Externalisierung zu entledigen versuchen. Und schließlich werden u. U. Opferrollen so erst überhaupt in die Welt gesetzt und verstetigt.
  4. Das dahinterliegende, binäre Geschlechter-Verständnis kann der politisch korrekte Jetztzeit-Mensch mit Sicherheit leichtens als toxisch entlarven. Diese Kategorisierung als solche verhallt jedoch vollständig ungehört und folgenlos im Raum eines brachial existenten, kulturellen Parallelraumes mit scheinbar unerschütterlicher, permanenter Selbstbestätigung.
  5. Man darf mal flott davon ausgehen, dass der Film hier nicht eine marginale Randgruppe skizziert. Vielmehr ist anzunehmen, dass es sich bei dem geschilderten, sozialen Milieu um ca. 15% der bundesdeutschen Bevölkerung, ergo über 12 Mio Menschen handelt (Quelle: Sinus-Milieus 2022, Deutschland; schwerpunktmäßig „präkeres Milieu“ mit deutlichen Ausweitungen ggüb. den Nachbar-Milieus, insb. „konsum-hedonistisches Milieu“).