Gedanken zu einem Sneak-Preview-Film
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„Wer ein reiches und volles Los seiner Tage begehrt und sich nicht bescheidet mit rechtem Maß ist ein Blinder! Ich will es ihm deuten in meinem Gesang mit Klarheit. Denn manch finsteres Wetter türmt um das altersgebleichte Haupt unheilschwanger sich aus!
Es schöpft niemals lautere Freude wer zu heiß das Leben liebt; er kennt nicht den letzten Tröster. Während Moira steigt aus Hades’ Nächten ohne Brautlied, Tanz und Leier, naht der Tod uns, heilend alle Trübsal!
Nicht geboren zu sein, o Mensch, ist das höchste, das größte Wort. Doch wofern du das Licht erblickst, acht’ als Bestes dahinzugehn wieder, von wannen du kamst, im Flugschritt!“1
Finstere, nachdenkliche Worte einer Gruppe alter, weißer Männer, die zwar im Bewusstsein der Gnade für den Angesprochenen gemeint sind, darüber jedoch das Leben an sich aus ihrer scheinbar verzagten Perspektive reflektieren. Fakt ist, dass Sophokles , der altehrwürdige Autor dieser Zeilen, in seiner klassichen Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ vor etwa 2.400 Jahren damit etwas aussagen wollte, das ihm offensichtlich wichtig erschien. Und da auch schon damals und bis zum heutigen Tage sein Publikum durchaus höchst unterschiedlich zusammengesetzt war hinsichtlich Herkunft, Bildung und Geschlecht, und mit Freude und Interesse seinen Werken lauschte und zusah, darf davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Textausschnitt weniger um eine arrogant belehrende Suada handelt. Vielmehr legt der Autor seinen Zeigefinger in die unliebsam schwärende Wunde der schmerzhaften Reflexion über das Dasein mit all seinen Tiefen, Herausforderungen und Beschwernissen.
Die dabei vermittelte, pessimistische Grundstimmung kann dann wohl auch eher als provokativer Denkanstoß, denn als richtungsweisende Anleitung verstanden werden.
Die Fragen nach dem Sein
Was heißt es, das Leben zu leben? Welche Dinge sind es wert, dabei angefasst zu werden? Wofür lohnt es sich, Hingabe zu üben? Ist es wert, die eigene Existenz auf dem Altar des Interesses und der Schwärmerei zu opfern? Was ist das „gute Leben“ und welchen Preis muss ein Mensch zahlen, um es zu erlangen und aufrecht zu erhalten? Wieder einmal ein Haufen tiefgreifender Fragen, die sich schon in ihrer schieren Bedeutung und Tragweite als eigentlich unfassbar erweisen, ganz zu schweigen von der Suche nach Antworten diesbezüglich.
Generationen von Philosophen, Dichtern, Künstlern und Musikern haben sich diesem Anliegen immer wieder mit Begeisterung, Wahrhaftigkeit, aber auch unablässigem Zweifeln und brennender Pein aufs Neue mutig gestellt. Auf der anderen Seite haben Generationen von Bauernfängern, Bürokraten, Volksverführern und Krämerseelen sich eben deren Antwortversuche wohlfeil und selbstherrlich zu Diensten gemacht. Sie haben zum Zwecke der Handhabbarkeit das Ausmaß der Thematik beschnitten und zu vermeintlich verdaulichen Häppchen zurechtgestutzt. Sie haben jegliche Mehrdeutigkeiten rabiat auf Linie gezwungen, alle Widersprüchlichkeiten leutselig aufgeklärt und die vielschichtige Verflochtenheit oberflächlich und holzschnittartig entwirrt. Sie haben alle Mühlsal beim Streben nach der Durchdringung des Seins heruntergespielt und jeder auf seine Art einen Setzbaukasten an Patentrezepten zum Heil der Welt in selbige hineingepresst und zumeist rücksichtslos zur Entfaltung gebracht.
Eine bessere Welt?
Genau an dieser Stelle und mit einer betörenden Selbstverständlichkeit setzt die Handlung des Filmes „The Assessment“ ein. Eine aus Sachzwängen resultierende, regelbasierte und rigide durchexerzierte Werteordnung bildet das offensichtliche Fundament einer sich erst im Laufe des Geschehens enthüllenden Gesellschaftsordnung, in deren verstörenden Mikrokosmos die Kino-Zuschauer wenig zimperlich hineingeworfen werden.

Ein junges Paar, Mia und Aaryan, beide Wissenschaftler, sie im Befasstsein mit der gefährdeten und belebten Natur – ausdrucksstark gespielt von Elisabeth Olsen, bekannt als Wanda Maximoff alias Scarlet Witch im Marvel-Universum, er, in die Realität hineinreichende, virtuelle Welten erschaffend, dargestellt von Himesh Patel, bekannt aus „Tenet“ (2020) und „Dont’t look up“ (2021) stehen vor der Herausforderung, die persönliche Eignung bezüglich ihres sehnlichen Kinderwunsches während einer siebentägigen Prüfung durch eine gouvernantenhaften Mtarbeiterin der staatlichen Fortpflanzungsbehörde, verkörpert von der Oscar-geadelten Schwedin Alicia Vikander, nachweisen zu müssen.
Nach und nach werden sowohl Details zu den sie umgebenden Umständen bekannt, wie auch prägende, biografische Einzelheiten. Die sehr differenziert von dem eingespielten Drehbuchautoren-Trio Nell G. Cox, Dave Thomas und John Donelly ausgearbeiteten Charaktere entfalten in dem überwiegend als Kammerspiel realisierten Leinwand-Werk dabei einerseits über das schauspielerische Können der drei Protagonisten, andererseits gereicht ihnen die szenische Dramaturgie mit anspruchsvollen Dialogen auch eine entsprechend vielschichtige Vorlage.
Fortpflanzung als staatliches Zugeständnis
Ohne den genaueren Verlauf der Handlung preiszugeben, sei festgestellt, dass die skizzierte Ausnahmesituation die Akteure an ihre psychischen Grenzen führt, sie stetig auseinandersetzt mit der Reibung ihrer idealistischen Vorstellungen an der konstruierten Wirklichkeit und dadurch ein fortwährendes, verstärktes Hinterfragen des eigenen Lebensweges und der zu Grunde liegenden Werte herausfordert.
Handelt es sich nun um eine als Dystopie verkleidete Utopie, oder wird vielmehr Stück für Stück eine schöngefärbte Zukunftswelt ihrer aufgehübschten Fassade entledigt?
An der Figur der wechselweise matronenhaft, heiligengleich, verführerisch oder infantil, stets aber mit einem ganz leicht spöttisch-provokanten Zug um die Lippen auftretenden, staatlichen Autoritätsperson mit dem bedeutungsschwangeren Namen „Virginia“ gerinnt der ganze Wahnsinn des großangelegten Sozialexperimentes einer „besseren Welt danach“.
Tugenden wie Geduld, Loyalität, Treue und Eloquenz werden in Serie auf die Probe gestellt und zerrinnen vor den Augen der Kinobesucher wie Sand zwischen den Fingern. Auch wenn der Film zunächst an Werke wie Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“ erinnert, so scheinen doch durchgehend vor allem existenzielle Fragen wie die aus Shakespeares „Hamlet“, Goethes „Faust“, George Bernard Shaws „Man and Superman“ und Ibsens „Brand“ hindurch. Und die naheliegende Frage, ob es in diesem Werk vornehmlich um Familie und Kinderkriegen geht, gewinnt vor diesem Hintergrund noch eine ganze andere, viel weiter gehende Bedeutung.

Die atmosphärische Enge dieses Erstlingswerkes der Französin Fleur Fortuné wird hervorgezaubert durch ein erstklassiges Set-Design. Die Außenaufnahmen, gedreht auf der Kanareninsel Teneriffa, vermitteln eine weitestgehend den Menschen letztendlich zurückweisende Umwelt, während die Innenaufnahmen, gedreht in Köln, ganz anders als bei ähnlichen Science-Fiction-Filmen, die sich meist auf eine Sichtbeton-Sterilität beschränken, mit bunten Glasfenstern, einem Lebendigkeit und Hoffnung ausstrahlendem Gewächshaus und bisweilen kuscheligen Rückzugsecken eine vergleichsweise geschützte Sphäre zeichnen.
Der unsichere Safe Space
Und genau dieser vermeintliche Safe-Space wird Zug um Zug auseinandergenommen und lässt eine andere Wirklichkeit hinter dem schönen Vorhang hindurchscheinen.
Untermalt wird die ausgefeilte Optik und Dramaturgie durch einen fein gesponenen, elegischen Soundtrack, der sich dezent im Hintegrund hält, so dass man durch seinen Geruch zwar beeinflusst, durch seinen Geschmack aber nicht abgelenkt wird. Eine große Leistung der in London lebenden Pianistin und Komponistin Emilie Levienaise-Farrouch (u. a. „Living – Einmal wirklich leben“, „All wir Fremden“).
Womit wir wieder am Anfang und bei der griechischen Tragödie wären. In zweieinhalb Jahrtausenden sind die Fragen die gleichen geblieben und Versuche, sie befriedigend zu entschlüsseln, ziehen sich wie eine endlose, bunte Perlenkette durch die Zeit. Dabei sehen wir im Jetzt, dass wir eine tragfähige Antwort, je nach Sichtweise entweder vollständig schuldig geblieben sind, oder aber unser beflissenes Werkeln auf diesem Erdenrund ist eben genau der exakte Widerhall dieser Sinnsuche.
Mit Hinblick auf dieses fast zweistündige, meisterliche Epos wird mit kunstvoll eingesetzen Mitteln ein vorübergehendes Innehalten ausgelöst, um sich im unablässigen, geschäftigen Alltags-Machen eins ums andere Mal zu vergewissern, dass man überhaupt noch weiß, welchem Licht man nun warum eigentlich ursprünglich folgen wollte.
Bei „The Assessment“ handelt es sich um einen hochdramatischen Kinostreifen mit einem glaubwürdigen und deutlich gegenwartsbezogenen Plot, der von passgenau gecasteten Schauspielern sehr gekonnt auf die Leinwand gebracht wird. Sehr empfehlenswert!
Filmstart: | 3. April 2025 |
Land/Jahr: | Deutschland, Spanien, 2024 |
Regie: | Fleur Fortuné |
Cast: | Alicia Vikander, Elizabeth Olsen, Himesh Patel |
Länge: | 114 min |
Genre: | Drama, Science Fiction |
Altersfreigabe (FSK): | 16 |
Bewertung: | 9/10 |
- Sophokles, „Ödipus auf Kolonos“, achter Auftritt, Chorgesang, Übs. nach Johannes Minckwitz, 1853